Die X-Akten der Astronomie: Der unmögliche Dreifachstern KIC 2856960
Seite 3: Die Quadratur des Umlaufs
Gilt also in dem System das dritte Keplersche Gesetz nicht? Nein, natürlich muss es gelten! Offenbar ist das angenommene Modell falsch oder unvollständig. Trotzdem lehrte es die Autoren, was zu tun war. Wie kann man erreichen, dass das Gesetz in Kraft bleibt, aber die Zeit, die Stern 1 vor Stern 3 verweilt, größer wird?
Durch ein Vierfachsystem! Die Autoren benennen zwei mögliche Varianten: Entweder umkreist Stern 3 einen 4. Stern. Es gäbe also neben dem Binärpaar 1+2 ein zweites Paar 3+4, deren Partner jeweils eng zusammen stünden, während die Paare sich in weitem Abstand umkreisten (Modus 1). Genau im Moment des Transits des Binärpaares vor Stern 3 müsste dieser beim Umlauf um Stern 4 rückläufig sein und sich somit in die gleiche Richtung wie das Binärpaar bewegen. So würde sich die Zeit des Transits für Beobachter auf der Erde verlängern (siehe Grafik, Mitte). Stern 4 wäre an den Bedeckungen nicht beteiligt.
(Bild: Alderamin, CC BY-SA 3.0)
Oder das Binärpaar umkreist einen vierten Stern, der mit Stern 3 um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreist (Modus 2). In diesem Fall müsste das Binärpaar sich beim Transit vor Stern 3 gerade rückläufig um Stern 4 bewegen, während Stern 3 seiner 204-tägigen Bahn um das Baryzentrum in der gleichen Richtung folgt. Auch diese rückläufige Bewegung würde die Transitzeit verlängern (siehe Grafik, rechts). Stern 4 würde an den Bedeckungen nicht teilnehmen.
Einziger Haken: diese spezielle Geometrie müsste über mindestens 7 aufeinanderfolgende 204-Tage-Perioden immer wieder dieselbe gewesen sein, d.h. die 204 Tage zwischen den Transits müssten exakt ein ganzzahliges Vielfaches der Umlaufzeit von Stern 3+4 in Modus 1 beziehungsweise derjenigen des Binärsystems mit Stern 4 in Modus 2 sein. Es gibt zwar sogenannte Bahnresonanzen – zum Beispiel vollführt Neptun drei Umläufe um die Sonne, während Pluto zwei vollführt und die inneren großen Jupitermonde haben Umlaufzeiten im Verhältnis 1:2:4, aber diese Verhältnisse gelten nur angenähert: 2:3,009 bei Neptun und Pluto, 1:2,02:4,07 bei Io, Europa und Ganymed. Im KIC-2856960-System müsste die 204-tägige Umlaufzeit auf ein Promille genau an ein exaktes ganzzahliges Vielfaches der Umlaufzeit um Stern 4 herankommen. Wenn dies nicht gegeben wäre, müssten sich die Transits schon bald erheblich verändern oder gar völlig verschwinden.
Nach Aussage der Autoren sind die von den beiden Quadrupel-Modellen reproduzierten Lichtkurven von derjenigen im Dreifachsystem ohne Kepler 3 nicht zu unterscheiden, aber Kepler bleibt im Vierfachsystem gültig. Eine noch etwas bessere Übereinstimmung ergab sich, als sie es zuließen, dass die Umlaufzeit und damit die Nullphase des Binärsystems während des Transits variieren durfte.
(Bild: T. Marsh, D. Armstrong, P.Carter, arXiv)
Vor allem im Fall von Modus 1 kamen etwas realistischere, wenn auch immer noch nicht völlig überzeugende Parameter für die einzelnen Sterne heraus:
- Stern 1: 0,5 Sonnenmassen (M⊙) / 0,6 Sonnenradien (R⊙),
- Stern 2: 0,78 M⊙ / 0,16 R⊙,
- Stern 3: 0,36 M⊙ / 0,51 R⊙,
- Stern 4: 0,91 M⊙ / Radius unbekannt.
Die Radien könnten allerdings quadratisch und die Massen kubisch mit einem Faktor s skalieren, der größer als 0,5 sein muss – hier wurde er zu 1 angenommen.
Zudem spricht für Modus 1, dass das Binärsystem keine zusätzlichen Lichtlaufzeitvariationen zeigte. Im Modus 2 wären solche im Rhythmus des Umlaufs mit Stern 4 zu erwarten. Die Autoren hatten erwartet, bei einer plausiblen Umlaufzeit von circa 5-20 Tagen einen Lichtlaufzeitunterschied von mindestens 20 Sekunden zu finden, fanden jedoch trotz einer Messgenauigkeit von 10 Sekunden nichts.
Wenn Stern 4 laut der oben zitierten Lösung eine knappe Sonnenmasse hat, müsste er die Helligkeit des Systems dominieren. Im Vergleich zu den erwarteten Helligkeiten der übrigen Sterne gemäß der obigen Parameter wäre in der Tat ein Beitrag von 70 Prozent "Fremdlicht" nötig, um die Gesamthelligkeit des Systems zu erklären. Die Autoren nahmen ein Spektrum des Systems auf und fanden, dass es einem K3- oder K4-Zwergstern entsprach, der etwa 0,65 Sonnenmassen haben sollte, ein nicht unplausibler Wert angesichts des unbekannten Skalierungsfaktors.
Ein System trotzt der Erklärung
Das Quadrupel-Modell nach Modus 1 ist das bisher beste Modell, mit dem das System von KIC 2856960 beschrieben werden kann, aber es ist immer noch nicht völlig plausibel.
Warum ist Stern 2 trotz seiner recht hohen Masse viel kleiner als Stern 1 mit geringerer Masse? Die Autoren gehen davon aus, dass es sich um gewöhnliche Hauptreihensterne, nicht um alte, fortentwickelte Sterne handelt – ein weißer Zwerg wäre ohnehin viel kleiner und sein Roter-Riese-Progenitor hätte im Binärsystem den Partnerstern verschluckt; ein Planet oder Brauner Zwerg wären wiederum sehr viel leichter und die Lichtkurve wäre bei so ungleichen Komponenten sehr unsymmetrisch. Die symmetrischen Bedeckungen des Binärsystems lassen eigentlich auf zwei ähnlich große Sterne gleicher Flächenhelligkeit schließen, nicht auf diesen Größenunterschied um einen Faktor 4.
Warum verfehlt Stern 2 aber dann bei den Transits zuverlässig die Scheibe von Stern 3 und verursacht keine signifikante Abschattung, obwohl Stern 1 und 2 sich gegenseitig bedecken? Und warum variiert offenbar die Umlaufzeit des Paars im Transit gegenüber der Umlaufzeit außerhalb desselben? Die Differenz zur erwarteten Epoche summiert sich über die Dauer eines Transits auf bis zu 1250 Sekunden und passt nicht zu den Bedeckungen innerhalb des Binärsystems.
Diese Probleme zeigen, dass KIC 2856960 noch nicht wirklich verstanden ist. Zwar hatten die Autoren die Randverdunklung der Sterne berücksichtigt, aber Effekte wie Sternflecken, gegenseitige Störungen innerhalb des N-Körper-Systems, Verformung der Binärkomponenten durch Gezeitenkräfte und die aufgrund dessen beim Umlauf variierende Querschnittsfläche sowie die über den Breitengrad variierende Helligkeit der Sternoberfläche (Gravity Darkening) hatten die Autoren aus Gründen der Komplexität ausgeklammert. Weitere Beobachtungen des Sterns von der Erde aus und genauere Analysen lösen vielleicht eines Tages die Frage, was in diesem merkwürdigen Sternsystem wirklich vor sich geht.
- T.R. Marsh, D.J. Armstrong, P.J. Carter, "KIC 2856960: the impossible triple star", Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, Volume 445, Issue 1, 21. November 2014.
(mho)