Die X-Akten der Astronomie: Die rätselhaften Radiosignale aus dem Untergrund
Seite 3: Oder war es der Schnee von gestern?
Wir haben uns nun also von zwei ungewöhnlichen Funksignalen über die Supersymmetrie und die sterilen Neutrinos bis zu einem Spiegeluniversum vorwärts gesponnen. Alles hängt aber letztlich nur an der fehlenden Phasenumkehr der beiden anormalen ANITA-Signale, aus der eine Ursprungsflugrichtung der Teilchen durch das Innere der Erde gefolgert wurde, während IceCube nichts dazu Passendes mit Bestimmtheit gemessen hat. Und so liefert eine im April 2020 veröffentlichte Arbeit von Ian Shoemaker, Alexander Kusenko und anderen eine verblüffende alternative Erklärung: Die Funksignale stammten, wie die meisten anderen von ANITA beobachteten, von in die Atmosphäre eingeschlagenen Teilchen der kosmischen Strahlung und seien wie gewöhnlich reflektiert worden, aber nicht am Boden, sondern im Boden, und deswegen gebe es keine Phasenumkehr.
(Bild: Access for free at https://openstax.org/books/university-physics-volume-3/pages/1-introduction, CC BY 4.0.)
Eine Phasenumkehr tritt genau dann ein, wenn das Funksignal von einem optischen dünneren Medium (mit kleinerem Brechungsindex, wie etwa Luft) an einem optisch dichteren (mit größerem Brechungsindex, wie etwa Eis) reflektiert wird. Reflexionen treten aber ebenso beim Übergang vom optisch dichteren zum optisch dünneren Medium ein (was jeder weiß, der schon einmal von unten gegen eine Wasseroberfläche geschaut hat), und dann tritt keine Phasenumkehr auf. Es bräuchte also nur eine Schicht im Eis, in der die optische Dichte für die Funksignale nach unten abnimmt, dann könnte ihre Grenzfläche Radioechos erzeugen, die genau so aussehen, als ob ihre Quelle in der Tiefe des Eises läge.
Mögliche Schichten sind im Eis eingeschlossener Schwimmschnee, Schichten verschieden dichter Firne, vom Wind glatt geschliffene und dann von Schnee bedeckte Eiskrusten, oder Schichten von Eisgefügen mit verschieden ausgerichteten Kristallen. Auch die Unterseiten von im Eis eingeschlossenen Seen flüssigen Wassers (subglaziale Seen) oder von Schnee bedeckte Hohlräume (wie Eishöhlen oder zugewehte Gletscherspalten) könnten solche Reflektoren bilden. Voraussetzungen wären, dass der Brechungsindex nach unten abnimmt, dass die reflektierende Schicht gegenüber den darüber liegenden, mit Phasensprung reflektierenden Flächen verkippt wäre (damit ihre phaseninvertierten Echos das nicht invertierte Echo nicht überlagern), dass die Flächen mindestens ungefähr 100 Meter durchmessen und die Schicht darüber dick genug ist.
Shoemaker et al. haben berechnet, dass ein Anteil von 7 Prozent der von ANITA überwachten Fläche mit entsprechenden Schichten im Eis ausreichen würde, um die beiden mutmaßlichen Aufwärts-Teilchenschauer statistisch zu erlauben (bei ansonsten insgesamt 33 registrierten Ereignissen in der Atmosphäre aufgrund kosmischer Strahlung). Für Schwimmschnee und Firne mit variierender Dichte sei dieser Flächenanteil gegeben, für Windkrusten und Schichten von Eisgefüge sei er unbekannt und für subglaziale Seen und Lufteinschlüsse sei der Anteil nicht gegeben, aber sie könnten zur Gesamtfläche beitragen.
Somit gibt es eine einfache Erklärung, die keinerlei supersymmetrischer Teilchen, keiner sterilen Neutrinos und keiner Spiegeluniversen mit nur ein bisschen sterilen Neutrinos bedarf. Nach Ockhams Rasiermesser wäre sie vorzuziehen, was allerdings kein Beweis für ihre Richtigkeit ist. So darf weiter spekuliert und auf die Ergebnisse der nächsten ANITA-Mission gewartet werden.
- Peter W. Gorham, Ben Rotter et al. (ANITA Collaboration), "Observation of an Unusual Upward-going Cosmic-ray-like Event in the Third Flight of ANITA", Physical Review Letters, Nr. 121, 161102, 18. Oktober 2018; arXiv-Preprint
- Derek B. Fox, Stein Sigurdsson, Sarah Shandera et al., "The ANITA Anomalous Events as Signatures of a Beyond Standard Model Particle, and Supporting Observations from IceCube", 14. März 2018; arXiv-Preprint
- John F. Cherry, Ian Shoemaker, "A Sterile Neutrino Origin for the Upward Directed Cosmic Ray Showers Detected by ANITA", Physical Review D 99, 063016, 22. März 2019; arXiv-Preprint
- Guo-yuan Huang, "Sterile neutrinos as a possible explanation for the upward air shower events at ANITA", Physical Review D 98, 043019, 24., August 2018; arXiv-Preprint
- Latham Boyle, Kieran Finn, Neil Turok, "The Big Bang, CPT, and neutrino dark matter ", 23. März 2018; arXiv Preprint
- Luis Alfredo Anchordoqui, Vernon Barger, John G. Learned at al., "Upgoing ANITA events as evidence of the CPT symmetric universe", Letters in High Energy Physics 1 (1), März 2018 (CC BY 4.0)
- Ian M. Shoemaker, Alexander Kusenko, Peter Kuipers Munneke et al., "Reflections on the anomalous ANITA events:the Antarctic subsurface as apossible explanation", Annals of Glaciology, Vol. 61 Issue 81, S. 92-98Cambridge University Press, 24. April 2020 (open access)
(mho)