Die Zeit nach Corona: Keine Rückkehr zum Normalzustand

Die soziale Distanzierung und andere harte Maßnahmen gegen COVID-19 werden uns auch nach dem Höhepunkt der Pandemie begleiten, meinen Experten.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 803 Kommentare lesen
Die Zeit nach Corona: Keine Rückkehr zum Normalzustand

(Bild: Photo by Tedward Quinn on Unsplash)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Gideon Lichfield
Inhaltsverzeichnis

Um das Coronavirus aufzuhalten, muss der Mensch fast alles in seinem Leben radikal ändern. Wie er arbeitet, Sport treibt, Kontakte knüpft, einkauft. Wie er auf seine Gesundheit achtet, den Nachwuchs unterrichtet und für die Familie sorgt. Jeder will, dass sich bald wieder Normalität einstellt. Doch einige haben noch nicht begriffen, dass viele Dinge sich nicht nach ein paar Wochen oder Monaten einfach wieder normalisieren werden. Manches wird bleiben.

Mehr Infos rund um das Coronavirus

Mittlerweile ist man sich weitestgehend einig, dass es jetzt allerorten gilt, "die Kurve abzuflachen": Seither wird 'Social Distancing' praktiziert, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verlangsamen. So soll sichergestellt werden, dass weniger Menschen gleichzeitig erkranken und das Gesundheitssystem nicht kollabiert, wie man es in Italien und Spanien und auch in New York erleben konnte. Die Pandemie wird also für längere Zeit in geringerem Ausmaß anhalten – und zwar entweder bis genug Menschen die Krankheit durchgestanden haben und immun geworden sind (angenommen, dass Immunität überhaupt länger bestehen würde, was bislang keiner ganz sicher weiß), oder bis es einen Impfstoff gibt.

Wie lange wird das dauern und wie streng müssen die sozialen Einschränkungen durchgesetzt werden? Als Präsident Trump im März neue Richtlinien, wie etwa die Beschränkung des Versammlungsrechts auf zehn Personen, bekannt gegeben hatte, sagte er, dass es nur "wenige Wochen konzentrierten Handelns" brauchen würde, um "die Kurve zu kriegen und zwar schnell". In China wurden die Lockdown-Maßnahmen Anfang April langsam gelockert, nachdem der Anstieg an neuen Infektionen zurückgegangen ist – doch China war Ground Zero und seit November betroffen.

Doch mit dem Ende eines Lockdowns ist die Sache nicht erledigt. Solange das Virus in nur einem einzigen Menschen existiert, können und werden Ausbrüche weiter geschehen. Es sei denn, es werden strenge Kontrollen durchgeführt, um das zu verhindern. Forscher des Imperial College London haben ebenfalls im März einen Vorschlag veröffentlicht, wie eine solche Maßnahme aussehen könnte: Nehmen Aufnahmen auf Intensivstationen zu, sollten stärkere soziale Distanzierungsmaßnahmen in Kraft treten – und dann wieder gelockert werden, sobald die Aufnahmen sinken.

Was das bedeutet, wäre ein ständiges Auf und Ab. Jedes Mal, wenn eine definierte Grenze überschritten wird, etwa 100 neue Fälle pro Woche, würde das Land alle Schulen sowie die meisten Universitäten schließen und die Bevölkerung sich wieder sozial distanzieren. Fällt die Quote unter 50, würden diese Einschränkungen wieder aufgehoben werden. Menschen mit Symptomen und deren Familienmitglieder müssten sich allerdings in häusliche Isolation begeben.

Forscher definieren den Begriff der sozialen Distanzierung so, dass alle Hausstände ihren Kontakt nach außen, zur Schule oder zum Arbeitsplatz, um 75 Prozent verringern. Das bedeutet nicht, dass Freizeitspaß mit Freunden dann einmal die Woche noch in Ordnung wäre, wenn man sich sonst viermal trifft. Es bedeutet, dass alle tun, was sie können, um soziale Kontakte zu minimieren, sodass sich die Menge an Kontakten insgesamt um 75 Prozent reduziert.

Mit diesem Modell, schlussfolgern Forscher, müssten Lockdown-artige Maßnahmen nur 2/3 der Zeit in Kraft treten (also für zwei Monate aktiv sein und einen Monat wieder nicht), bis ein Impfstoff erhältlich ist. Letzteres wird aber mindestens 18 Monate dauern, falls es überhaupt klappt. Die Forschungsgruppe vom Imperial College kommt für ein US-amerikanisches Szenario zu qualitativ ähnlichen Ergebnissen.

18 Monate sind eine lange Zeit. Manch einer wird auf andere Lösungen hoffen. Warum, mag man nun fragen, werden beispielsweise nicht einfach mehr Intensivkliniken aufgebaut, um mehr Menschen gleichzeitig zu behandeln?

Folgt man Modellen wie dem des Imperial College London, wäre das Problem damit nicht gelöst. Verzichten wir auf soziale Distanzierungsmaßnahmen, ist davon auszugehen, dass selbst die bewährtesten Strategien, um die Verbreitung des Virus einzudämmen – also Kranke, Alte und Kontaktpersonen zu isolieren oder in Quarantäne zu schicken sowie Schulschließungen – immer noch einen so starken Anstieg schwerer Fälle zulassen, dass die Kapazitäten des US-amerikanischen oder britischen Gesundheitssystems um ein Achtfaches überstiegen werden.

Untersucht wurde auch die Variante, Einschränkungen nur für eine etwa fünfmonatige Phase gelten zu lassen. Doch das verspricht nichts Gutes: Sobald die Maßnahmen aufgehoben werden, bricht die Pandemie wieder aus – nur diesmal im Winter, in der Zeit also, in der das Gesundheitssystem am schwersten belastet wird.

In einem weiteren Szenario wird die unbarmherzige Möglichkeit ausgelotet, eine Aufnahme auf die Intensivstation höherschwellig anzusetzen. Der Gedanke dahinter: Menschen reduzieren ihre sozialen Kontakte von alleine sehr stark, wenn vom System eine höhere Sterberate in Kauf genommen wird. Doch letztlich macht auch solch ein Vorgehen keinen Unterschied: Selbst in den lockersten Szenarien des Imperial College London müssten die Lockdown-Maßnahmen für mehr als die Hälfte der Zeit gelten. Diese Krise ist keine vorübergehende Unterbrechung des gesellschaftlichen Lebens, wie wir es kennen. Sie markiert den Anfang einer neuen Zeit.

Kurzfristig betrachtet fügt die Pandemie allen Unternehmen und Unternehmern einen großen Schaden zu, die auf Menschenversammlungen angewiesen sind: Restaurants, Cafés, Bars, Nachtclubs, Fitnessstudios, Hotels, Theater, Kinos, Ausstellungen, Shopping Malls, Messen, Museen, Musikern und anderen darstellenden Künstlern, Sportveranstaltungen (und Sportlern), Konferenzen (und deren Veranstaltern), Kreuzfahrten, Flugunternehmen, dem öffentlichen Verkehr, Privatschulen, Kitas. Ganz zu schweigen von dem Stress, den Eltern erleben, die ihre Kinder nun Zuhause unterrichten und den Schwierigkeiten von Menschen, die sich um ältere Verwandte kümmern wollen ohne sie einer Infektion auszusetzen. Man denke auch an alle, die in gewalttätigen Beziehungen gefangen sind, und an jene, die kein finanzielles Polster für unstete Zeiten zurücklegen konnten.

Nun werden sich sicher einige Anpassungen ergeben: Fitnessstudios zum Beispiel könnten jetzt Sportgeräte für Zuhause verkaufen und Online-Kurse anbieten. Neue variierte Dienstleistungen werden sich explosionsartig auf dem Markt entwickeln – als "eingeschlossene Wirtschaft" ("shut-in economy") wird dieser Trend bereits bezeichnet. Gleichzeitig darf man hoffen, dass Gewohnheiten sich auch dahingehend verändern, dass weniger kohlenstoffintensiv gereist wird, dafür mehr lokale Produkte gekauft werden, Menschen sich draußen bewegen und Fahrrad fahren. Doch für sehr viele Unternehmen und Existenzen wird diese Herausforderung unmöglich zu bewältigen sein. Auf lange Sicht kann dieser isolierte Lebensstil sich auch wirtschaftlich nicht halten.

Wie also in dieser neuen Welt leben? Beantwortet wird diese Frage – hoffentlich – mit besseren Gesundheitssystemen, mit Expertenteams, die gefährliche Erreger schnell identifizieren und eindämmen können bevor sie ausbrechen, und damit, dass es gelingen kann, medizinische Ausrüstung, Testverfahren und Medikamenten schneller zu beschaffen. COVID-19 wird all das nicht mehr aufhalten können, aber bei zukünftigen Pandemien kann eine solche Vorbereitung sich als hilfreich erweisen.

In der nächsten Zeit ist mit unbehaglichen Kompromissen zu rechnen, die dem vertrauten, gesellschaftlichen Miteinander nur entfernt ähneln werden. Man stelle sich Kinos vor, die nur noch die Hälfte ihrer Plätze besetzen, Sitzungen in großen Räumen mit weit auseinander gerückten Stühlen, und eine Anmeldepflicht bei Fitnesskursen zur Kleinhaltung der Gruppen.

(bsc)