Die neue Revolution

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Der Weibo-Gemeinde gelang es zudem, das entführte Kind eines Arbeiters aus der Provinz Hubei aufzuspüren. Ein Internetnutzer hatte ein Foto des Kindes verbreitet, wie es an einer Straßenkreuzung in den Armen einer Frau zum Betteln missbraucht wurde. Per Schneeballsystem wurden immer mehr Menschen auf den Fall aufmerksam, bis das Foto schließlich auch die Eltern des Jungen erreichte. Ein anderes Kind benötigte dringend Spender für eine seltene Blutgruppe. Binnen zwei Tagen meldeten sich über Weibo zwei Kandidaten. In Nanjing retteten Umweltaktivisten einen Wald vor dem Abholzen. Sie lancierten eine Protestaktion, indem sie dazu aufriefen, dem PR-Büro der Behörden ihre Porträtfotos mit lächelnden Gesichtern zu mailen. Schon nach wenigen Hundert Fotos knickten die Behörden ein.

Die Menschen haben ihre neuen Möglichkeiten lieben gelernt. In einem Staat, der kein Interesse daran hat, selbstständige und mündige Bürger heranzuziehen, erweitern sie über soziale Medien ihren Horizont. "Die Leute teilen einen Raum miteinander, den sie zuvor nicht hatten: den öffentlichen Raum", sagt Michael Anti, chinesischer Journalist und Blogger. "Die Entwicklung wird uns dabei helfen, uns selbst zu helfen."

Der 36-Jährige heißt eigentlich Zhao Jing, aber seit einem Jahrzehnt nennt er sich als Protest gegen das Establishment "Anti". Letzten September bekam er in Potsdam für seinen Kampf gegen die Zensur den "M100 Sanssouci Media Award" verliehen. Soziale Medien seien das Update der Generation Internet, meint Anti. Er will damit sagen: Das Internet hat die Menschen Chinas miteinander verbunden, aber erst durch soziale Medien nähern sie sich einander. "Die Leute befinden sich im Aufbruch in die Zivilgesellschaft. Insofern sind soziale Medien revolutionär", sagt der Blogger.

Diese Zivilgesellschaft wurde bisher unter anderem von der Struktur des chinesischen Vereinswesens ausgebremst. Wer beispielsweise gern tanzt, zeichnet oder sich für die Umwelt engagiert, darf zwar einen entsprechenden Verein gründen, braucht dafür aber einen staatlichen Träger – etwa einen Verband, eine Verwaltungsabteilung oder auch die kommunistische Jugend-liga. "Bereits die Suche nach einer Trägereinheit entpuppt sich häufig als aussichtslos für die Aktivisten", sagt Maria Bondes vom Institut für Asienstudien in Hamburg.

Ist diese Hürde genommen, legt die Regierung den Aktivisten neue Steine in den Weg. Auf jeder der vier Verwaltungsebenen Staat, Provinz, Bezirk und Stadt darf sich nur jeweils eine Organisation pro Themenfeld registrieren lassen, und ihr Handlungsradius beschränkt sich auf ihren Verwaltungs-bereich. Somit verhindert der Staat, dass sich Allianzen aus verschiedenen Gruppen bilden. Auch eine vertikale Verknüpfung über verschiedene Ebenen der Verwaltung lässt der Staat nicht zu. "Auf jeder Ebene kochen die Aktivisten ihr eigenes Süppchen", sagt Bondes, deren Doktorarbeit sich mit dem Einfluss sozialer Medien auf den Aktivismus in China befasst. Überall im Land durften sich die Weltverbesserer tummeln, aber zusammenkommen konnten sie nicht. Die Schlagkraft des zivilen Engagements konnte auf diese Art und Weise entschärft werden – bis die sozialen Netzwerke kamen. "Das gesamte Umfeld des Aktivismus hat sich von heute auf morgen verändert", sagt Doktorandin Bondes. "Die Aktivisten generieren über Weibo neue Mitglieder oder Geld und werben für ihre Aktionen."

Die Regierung möchte sich der umtriebigen Online-Gemeinde allerdings nicht kampflos geschlagen geben. Das Zentralkomitee der Partei verkündete kürzlich, es wolle das Web künftig stärker lenken, um ein "zivilisiertes" Internet zu schaffen. Dazu nahm die Partei Vertreter der wichtigsten chinesischen Internetfirmen ins Gebet. Neben den größten Mikroblog-Betreibern Tencent und Sina mussten auch der Suchmaschinenriese Baidu und die Verkaufsplattform Alibaba ihre Unterstützung für das "zivilisierte Internet" zusagen. Um keinen Ärger mit den Behörden zu riskieren, fügten sich die Bosse.

Als sehr wahrscheinlich gilt die Einführung einer Identifizierungspflicht. Wer sich im Netz äußert, darf das dann nicht mehr anonym tun, sondern nur noch unter echtem Namen. In der Blogosphäre wird seit Monaten zudem über weitere Kontrollmaßnahmen spekuliert. Manche rechnen mit einer zahlenmäßigen Begrenzung der Weibo-Konten, andere fürchten, Kommentare würden bald nur noch mit Zeitverzögerung veröffentlicht. Die Dynamik, mit der sich eine unabhängige öffentliche Meinung entwickelt, würde dadurch viel an Schwung verlieren – und die Regierung hätte mehr Zeit, die Deutungshoheit über aktuelle Vorgänge zu erobern.

Außerdem mobilisiert die Führung ihre eigenen Medien, um die Revolution einzudämmen. Unter dem Vorwand, die Bevölkerung zu schützen, startete sie eine Diffamierungskampagne. "Mikroblogs – Die neue Gerüchteküche" titelte die staatliche Zeitung "China Daily". Die Botschaft: Jeder Chinese kann Opfer von Gerüchten im Internet werden. Deshalb empfehlen die staatlichen Medien Vorsicht bei der Weitergabe von Online-Informationen. Jüngst erließ die General Administration of Press and Publication (GAPP), eine Aufsichts- und Lizenzierungsbehörde für alle Publikationen im Land, neue Regeln für klassische Medien wie Zeitungen oder Bücher: Demnach dürfen sie Informationen aus dem Internet nur noch veröffentlichen, wenn sie durch eine zweite Quelle bestätigt werden. Damit soll das Internet als Informationsquelle für klassische Medien ausgetrocknet werden.