Die neue Revolution

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Parallel dazu motiviert der Staat seine Beamten und Institutionen dazu, die sozialen Medien für eigene Zwecke zu nutzen. Staatliche Organe eröffnen eigene Mikroblogs, Videoplattformen und Suchmaschinen, um zumindest einen Teil der Internetgemeinde kontrollieren und steuern zu können. Und die Parteischule in Peking bietet städtischen Beamten Schulungen im Umgang mit den neuen Medien an. Sie sollen unter anderem lernen, das Internet als Seismograf für die emotionalen Schwingungen an der Basis des Volkes zu verstehen und frühzeitig steuernd einzugreifen. Solcher Nachhilfeunterricht ist auch bitter nötig. Das ganze Land lachte sich schief über einen verheirateten Beamten, der über den Kurznachrichtendienst "Sina.Weibo" ein Schäferstündchen mit seiner Geliebten verabredete. "Das kann doch keiner lesen?", postete er völlig ahnungslos in die Runde, bevor er die Dame um die Rechnungen von ihrer letzten Shoppingtour bat.

Soziale Medien stecken aber nicht nur für Parteifunktionäre voller Überraschungen. Auch internationale Unternehmen spüren die neue Macht aus dem Netz. Ein chinesischer Blogger nutzte seine digitale Plattform kürzlich dazu, den Weltkonzern Siemens anzuprangern, weil er unzufrieden war mit der Qualität der Kühlschränke. Seine Schimpftiraden multiplizierte die Netzgemeinde tausendfach. Die Anti-Siemens-Kampagne gipfelte schließlich in einer öffentlichen Demolierung von Kühlschränken vor der chinesischen Siemens-Zentrale in Peking.

"In China kann sich der schlechte Effekt für die Unternehmen potenzieren, weil mehrere Hundert Millionen Menschen Mikroblogs benutzen", sagt Harrison Xing, Chef von "Tencent.Weibo", mit 300 Millionen Registrierungen der populärste Anbieter von Mikroblogs.

Andererseits bieten sich neue Möglichkeiten für die Firmen. Allein bei Tencent sind es 15000 ausländische und nationale Unternehmen, die über Mikroblogs die Aufmerksamkeit der Nutzer gewinnen wollen. Volkswagen hat mit seinem People's Car Project neues Terrain betreten. Das Unternehmen forderte mithilfe der sozialen Medien chinesische Konsumenten dazu auf, sich an der Entwicklung des Autos von morgen mit ihrem individuellen Input zu beteiligen. "So versuchen wir herauszufinden, wie weit Personalisierung von Produkten in China gehen soll", sagt Christian Claussen, Chef der China-Markenpflege von VW. Das Projekt ist ein Erfolg. Bislang sind über 90000 Ideen bei Volkswagen China eingegangen.

Seit einer Weile zwitschern auch die Diplomaten der Bundesrepublik auf Mandarin. "Weiplomacy" nennt sich der neue Trend. "Es muss ständig aktualisiert werden. Die Leute wollen etwas geboten bekommen", sagt Frank Hartmann, Pressechef der deutschen Botschaft. Gut 40 Prozent der mehreren Tausend Botschaftsleser sind unter 30 Jahre alt. Eine ausgewogene Mischung an Themen zu finden und attraktiv zu bleiben, entpuppt sich als hartes Stück Arbeit für die Mitarbeiter. Das Spektrum ihrer Beiträge bewegt sich zwischen nüchterner politischer Verlautbarung, nützlichen Informationen, Werbung für das Reiseland Deutschland und reiner Unterhaltung. Über konkrete Themen wollen die Deutschen mit den chinesischen Bürgern verstärkt in den Dialog treten. Manche Nutzer wollen mehr erfahren über Kultur oder Geschichte der Bundesrepublik, andere beschweren sich über unfreundliche Gesichter in der Visastelle.

Wieder andere rufen über das Angebot der Deutschen zur Revolution auf. "Was die in Libyen können, das können wir auch", schrieb einer. Für die Botschaft ist das eine heikle Angelegenheit, weil sie sich von jeglichen Aufrufen zur politischen Umwälzung im Land fernhalten muss. Sie entschied aber, die Bemerkung nicht zu zensieren. Im Zweifelsfall werden das die Chinesen ohnehin selbst übernehmen. Diese Erfahrungen haben britische und amerikanische Diplomaten bereits gemacht. Sie wollten über ihre Mikroblogs unter anderem eine Diskussion über Internetfreiheit entfachen. Ihre Kommentare wurden von den Plattformbetreibern gelöscht, vermutlich im Auftrag der chinesischen Zensoren.

Die Internetnutzer in China schlagen solchen Kontrollen seit Jahren immer wieder ein Schnippchen. Sie nutzen beispielsweise sogenannte VPN-Tunnel ("Virtual Private Network"), um die IP-Adresse ihres Computers zu verschleiern. Oder sie bedienen sich verschlüsselter Botschaften, um die Zensoren zu täuschen. Aktivisten, die zum Beispiel den unter Hausarrest stehenden, blinden Rechtsanwalt Chen Guangcheng besuchen wollen, sprechen von "Abenteuer-Tourismus nach Shandong", der Heimatprovinz des Anwalts. Oder sie geben Parolen für seine Befreiung aus wie "Lasst es Licht werden" (die Silbe "Guang" in seinem Vornamen bedeutet zugleich "Licht").

Es ist anzunehmen, dass die Internetzensoren der Volksrepublik auch solche Codierungen immer öfter entlarven werden. Aber dann wird die Internetgemeinde ein neues Schlupfloch finden. Der Wettlauf zwischen Bürgern und Regierung um die Hoheit im Web verspricht spannend zu bleiben. (bsc)