Digitalfreie Schulen? Kompetenzverbund will evidenzbasiert Digitalität fördern

"Es kommt darauf an, wie digitale Medien genutzt werden", erklärt der Kompetenzverbund lernen:digital und wendet sich so gegen pauschale Verbote in Schulen.

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(Bild: Gorodenkoff/Shutterstock.com)

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Inhaltsverzeichnis

Ist Lernen mit digitalen Mitteln tatsächlich schlecht für Kinder? Das behauptete jüngst eine Gruppe von bekannten Digitalisierungskritikern in einem Manifest. Dies taten sie auch sicherlich zeitlich abgestimmt auf die Veröffentlichung der deutschen Kurzfassung des Unesco-Weltbildungsberichts für 2023 in dieser Woche. Text und Termine lagen Medienvertretern schon etwas länger vor.

Der Unesco-Bericht warnte vor der ungeprüften Nutzung von digitalen Bildungsangeboten, hob aber zugleich hervor, wie etwa ein Internetzugang zur Bildungsteilhabe beitrage und digitale Lernmittel oder digital-gestützter Unterricht je nach Kontext als nützlich anzusehen sind. Er konstatierte also nicht eine rigide Ablehnung von digitalen Angeboten, sondern forderte mehr Forschung, um die Angebote zu ermitteln, die das Lernen wirklich unterstützen oder erst ermöglichen.

Um Forschung und Praxis näher zueinanderzubringen, wurde in Deutschland im April dieses Jahres der Kompetenzverbund lernen.digital gestartet. Dieser soll eigentlich genau das leisten, was der Unesco-Bericht seit diesem Sommer, Lehrkräfte und Forschende schon länger fordern: In den Projekten des Kompetenzverbundes sollen evidenzbasierte Fort- und Weiterbildungen, Materialien sowie Konzepte für die Schul- und Unterrichtsentwicklung erarbeitet werden.

Kompetenzverbund lernen:digital

Im April 2023 hat der Kompetenzverbund lernen:digital seine Arbeit aufgenommen. Er wird finanziert durch die Europäische Union – NextGenerationEU und gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Die Förderung ist auf 2 1/2 Jahre begrenzt. Vier Kompetenzzentren sollen ganz unterschiedliche Fortbildungsangebote für Lehrkräfte erarbeiten, um Unterricht unter Nutzung digitaler Medien weiterzuentwickeln. Diese Fortbildungskonzepte sollen in insgesamt 24 Verbünden erprobt, evaluiert und anschließend für die Nutzung in allen Bundesländern in Zusammenarbeit mit der Transferstelle bereitgestellt werden.

Prof. Dr. Katharina Scheiter und Prof. Dr. Dirk Richter, die Teil der wissenschaftlichen Leitung der lernen:digital Transferstelle sind, und Ralph Müller-Eiselt, Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung, haben in einem schriftlich geführten Interview mit heise online auf die aktuellen Fragen zur digitalen Bildung geantwortet.

Frage: Wie positioniert sich der Kompetenzverbund in Bezug auf die Forderungen von Digitalisierungskritikern und dem Unesco-Weltbildungsbericht 2023?

Der Unesco-Weltbildungsbericht hat die schwierige Aufgabe, möglichst allgemeingültige Aussagen zur Rolle von Technologie im Bildungssystem zu treffen. Global spielt vor allem das Thema Bildungsgerechtigkeit eine große Rolle. Starke Forderungen nach einem digital gestützten Unterricht sind hier vor allem für Länder des globalen Südens problematisch, da hier der Zugang zu Hard- und Software sowie zum Netz noch sehr stark eingeschränkt und ungleich verteilt ist. In Deutschland sind wir da natürlich deutlich besser aufgestellt und zumindest die Ausstattung an Schulen ist weniger vom sozioökonomischen Hintergrund der Schülerschaft abhängig. Allerdings haben auch hier während der pandemiebedingten Schulschließungen Ungleichheiten einen Einfluss auf den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten gehabt, weil hier die Ausstattung zu Hause entscheidend war. Kinder mit mehreren Geschwistern mussten sich Geräte teilen, oftmals waren auch nur Handys vorhanden oder das Datenvolumen erlaubte keine Videokonferenzen oder andere Formen einer intensiven Internetnutzung.

Sowohl im Unesco-Bericht als auch im gerade veröffentlichten Manifest zum Medienverzicht bis zur sechsten Klasse werden die negativen Effekte der pandemiebedingten Schulschließungen auf Schulleistungen sehr einseitig als Ergebnisse eines natürlichen Experimentes zum digitalen Lernen interpretiert. Dabei wird zum einen vergessen, dass die Umsetzung des Lernens auf Distanz unter denkbar schlechten Bedingungen stattfand – über Nacht, ohne geeignete technische Ausstattung oder Cloud-Angebote, keine didaktischen Konzepte und mit schlecht vorbereiteten Lehrkräften und Schüler:innen. Zum anderen haben die pandemiebedingten Schulschließungen viele Nebenwirkungen gehabt, die mit dem digitalen Lernen nichts zu tun haben: Kinder und Jugendliche hatten nur eingeschränkten Kontakt zu Freund:innen, zu Hause war die Situation angespannt durch Sorgen um den Job der Eltern, die Gesundheit der Großeltern oder beengte Wohnsituationen. Und wir wissen, dass Schüler:innen deutlicher weniger Zeit auf lernbezogene Aktivitäten verwendet haben. Das sind alles Rahmenbedingungen, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit negativ auf Lernleistungen ausgewirkt haben – unabhängig vom Online-Lernen.

Der Unesco-Bericht sowie das erwähnte Manifest bemängeln die fehlende Evidenz zur Lernwirksamkeit des Lernens mit Medien. Allerdings wird hier das Ausbleiben von Medieneffekten sehr pauschal adressiert: Im Unesco-Bericht interessiert vor allem, ob die Ausstattung mit Tablets und Laptops oder nationale Bereitstellungen von Bildungsressourcen und Software Bildungserträge verbessern. Aber es ist überhaupt nicht erwartbar, dass Computer als solche einen Lerneffekt haben. Es kommt darauf an, wie digitale Medien genutzt werden, um spezifische Lernprozesse, die für das Erreichen eines fachlichen oder überfachlichen Bildungsziels wichtig sind, zu unterstützen und wie sie in den Unterricht integriert werden. Man muss also viel genauer hinschauen, welche Medien für welche Bildungsziele in einem bestimmten Unterrichtsszenario einen Lerneffekt haben. Hierzu liegen zahlreiche aussagekräftige, im Peer-Review Verfahren publizierte empirische Studien und vor allem Metaanalysen (Zusammenfassungen von mehreren Studien) vor, die zeigen, dass zum Beispiel Simulationen, digitale Spiele, Animationen oder auch intelligente tutorielle Systeme mittlere bis große Effekte auf den Lernerfolg haben. Der Unesco-Weltbildungsbericht erkennt diese Potenziale für bestimmte Arten des Lernens sowie für Inklusion und Teilhabe durchaus an.

Zu behaupten, es gäbe keine Evidenz zu den Lernpotenzialen digitaler Medien, wie es jedoch im Manifest getan wird, ist schlichtweg falsch. Die Größe der Effekte hängt allerdings oft von der Unterstützung durch Lehrkräfte und damit von ihren Kompetenzen zur Gestaltung digital gestützten Unterrichts ab. Umso wichtiger ist die Arbeit des Kompetenzverbund lernen:digital, mit dem genau diese Kompetenzen der Lehrkräfte gestärkt werden.

Im Übrigen vergessen beide Stellungnahmen einen wesentlichen Punkt: Digitale Medien sind nicht nur Lernmittel, sondern sie prägen die Lebenswelt und zukünftige Arbeitswelt von Kindern und Jugendlichen. Aufgabe von Schule ist es, Kinder auf diese Lebenswelt vorzubereiten, indem sie Kompetenzen vermittelt, Chancen einer Kultur der Digitalität zu nutzen und aber auch mit Herausforderungen umgehen zu können. Jenseits der Frage, ob digitale Medien Lernen unterstützen, ist die Vermittlung von Medienkompetenz damit eine zentrale Aufgabe – und zwar beginnend in dem Alter, in dem Kinder auch anfangen, die Medienwelt zu erkunden.

Was will und soll der Kompetenzverbund in Deutschland leisten?

Der Kompetenzverbund lernen:digital gestaltet den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis für die digitale Transformation von Schule und Lehrkräftebildung. Vier Kompetenzzentren bündeln in den Bereichen MINT, Sprache/Gesellschaft/Wirtschaft, Musik/Kunst/Sport und Schulentwicklung die Expertise aus rund 200 länderübergreifenden Forschungs- und Entwicklungsprojekten. In den Projekten entstehen evidenzbasierte Fort- und Weiterbildungen, Materialien sowie Konzepte für die Schul- und Unterrichtsentwicklung in einer Kultur der Digitalität.

Die Transferstelle übernimmt im Kompetenzverbund lernen:digital eine Schnittstellenfunktion und garantiert den systematischen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie führt die wissenschaftliche Expertise in den Projektverbünden zu Kompetenzzentren zusammen, betreibt nutzeninspirierte Forschung zu transferrelevanten Fragestellungen und vernetzt die Akteure der Landesinstitute für Lehrkräftebildung, der Bildungsverwaltung und der Bildungspolitik. Sie greift bestehende Transferstrukturen auf und entwickelt diese mit den Ländern weiter. Es wird eine nachhaltige Zusammenarbeit bei der Gestaltung der Transformation von Schule und Unterricht in einer Kultur der Digitalität geschaffen.

Wie soll sich das konkret auf die Situation in den Schulen auswirken?

Der Kompetenzverbund lernen:digital stärkt mit seinen Aktivitäten die 3. Phase der Lehrkräftebildung, die Fort- und Weiterbildung. Ein Fortbildungsoffensive für Lehrer:innen ist schon lange überfällig, gilt dieser Bereich doch als chronisch unterfinanziert und wenig verbindlich mit nur geringer politischer Aufmerksamkeit. Die bei lernen:digital entstehenden Fort- und Weiterbildungen, Materialien sowie Konzepte für die Schul- und Unterrichtsentwicklung stärken die Kompetenzentwicklung der Lehrkräfte für eine gelingende digitale Transformation an den Schulen. Insofern wirken sie mittelbar auf die Schulpraxis in der Kultur der Digitalität aus.

Erhalten Lehrkräfte bald praxisnahe Tipps zu digitalen Angeboten, die sie sicher einsetzen können?

Sie erhalten Fortbildungen zur Gestaltung lernwirksamen Unterrichts mit und über digitale Medien. Mit einfachen Tool-Tipps ist es aus unserer Sicht nicht getan. Ich kann mit ein und demselben Tool sehr guten oder sehr schlechten Unterricht machen. ChatGPT ist dafür ein schönes Beispiel. Ich kann Schülerinnen und Schüler dazu anleiten, ChatGPT als Tool zur Recherche von Fakten einzusetzen, ähnlich wie eine Suchmaschine. So ein Einsatz basiert auf einem völlig falschen Verständnis der Funktionsweise von textgenerierenden KI-Systemen und führt im schlimmsten Fall dazu, dass die Heranwachsenden glauben, ChatGPT liefere ihnen "Fakten" aus dem Internet. Alternativ kann ich die Aufgabe geben, gemeinsam mit ChatGPT eine schriftliche Argumentation zu einem kontroversen Thema zu verfassen und dabei dazu Stellung zu nehmen, welche Prompts sie verwendet haben und wie sie mit den Antworten von ChatGPT umgegangen sind. Das fördert nicht nur eine aktive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Argumentation, sondern auch die Medienkompetenz, da sie zur kritischen Reflexion der Funktionsweise des Tools angeregt werden. Daher geht es in den im Kompetenzverbund lernen:digital entwickelten Fort- und Weiterbildungen auch nicht um die Vermittlung von technischen Bedienfertigkeiten. Vielmehr wollen wir Lehrkräfte darin unterstützen, digitale Medien so in den Unterricht zu integrieren, dass daraus ein verständnisorientiertes, kohärentes Gesamtkonzept resultiert, in dem Heranwachsende ihr Lernpotenzial entfalten können.

Wird der Kompetenzverbund Zertifizierungen entwickeln?

Nein, das würde viel umfangreichere Prüf- und Evaluierungsprozesse voraussetzen. Außerdem macht ein eigenes Zertifikat bei einer nicht auf Dauer angelegten Initiative keinen Sinn. Wir arbeiten an Standards für gute Fort- und Weiterbildungen, die aber eher informierenden Charakter zum Beispiel für die Angestellten an den Landesinstituten für Lehrkräftebildung haben. Außerdem unterstützen wir die Qualitätssicherung in der Fort- und Weiterbildung durch die forschungsbasierte Entwicklung von Evaluationsinstrumenten. Mit denen kann man die Fortbildungsqualität aus Sicht der Teilnehmenden erfassen oder auch feststellen, inwieweit sie wie erwartet Kompetenzen für das Unterrichten mit digitalen Medien aufgebaut haben.

Die Projektdauer ist mit 2 1/2 Jahren sehr kurz – kann ein Kompetenzverbund mit so vielen Akteuren überhaupt in so kurzer Zeit belastbare Ergebnisse oder eine Sichtbarkeit erreichen?

Die Rahmenbedingungen sind in dieser Hinsicht sicherlich nicht optimal. Was man hier vor allem nicht leisten kann, ist eine umfangreiche Evaluierung der entwickelten Maßnahmen in groß angelegten, empirisch-quantitativen Feldstudien. Allerdings fangen die wenigsten Projektverbünde bei Null an. Es gibt in der Regel Vorarbeiten aus der Qualitätsoffensive Lehrerbildung oder auch bereits erfolgten Beteiligungen an der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften; beispielsweise in Zusammenarbeit mit den vor Ort bestehenden Landesinstituten.

Um die Sichtbarkeit zu erhöhen, haben wir eine Reihe von synchronen und asynchronen digitalen sowie Präsenzformaten vorgesehen, die federführend durch das Forum Bildung Digitalisierung mit seiner langjährigen Erfahrung in der Vernetzung unterschiedlicher Akteursgruppen im Bildungssystem organisiert werden. Wir versuchen, einen möglichst intensiven Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis zu ermöglichen, über den ein Austausch über die Angebote des Kompetenzverbunds gelingen kann.

Inwieweit ist auch die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) mit dem Kompetenzverbund verbandelt?

Wir, das heißt die Transferstelle des Kompetenzverbund lernen:digital, stehen in engem Austausch mit der KMK und dort insbesondere mit der Kommission Lehrkräftebildung sowie mit den Landesinstituten der 16 Bundesländer. Wir haben uns darauf geeinigt, für die Zuverfügungstellung der Fort- und Weiterbildungs- und Schulentwicklungskonzepte eine bereits in den Ländern etablierte und die KMK verantwortete Plattform zu nutzen. Damit stehen die Ergebnisse der Projektverbünde in allen Ländern zur Verfügung. Ebenso schaffen wir Angebote zur bundesweiten Vernetzung an den Landesinstituten. Die Zusammenarbeit mit der Bildungsverwaltung und Bildungspolitik ist ein entscheidendes Element unserer Transferstrategie, um trotz der kurzen Förderzeit eine nachhaltige Verankerung der Ergebnisse des Kompetenzverbunds und eine langfristige Optimierung der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis im Bildungswesen zu erreichen.

(kbe)