Gentechnik: Leben neu buchstabiert

Seite 2: Organismen erfüllen spezielle Aufgaben

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Wozu so viel Flexibilität gut ist, wissen allerdings auch Experten noch nicht so genau. Der synthetische Biologe Stefan Dübel von der Technischen Universität Braunschweig betrachtet Romesbergs Übung als "sehr akademisch" und verweist auf den Formenreichtum, der schon mit Umcodieren zu erreichen sei. Für Romesberg geht es nach eigenem Bekunden zunächst nur um die Machbarkeit an sich. Andere Forscher arbeiten da wesentlich zweckorientierter. Ihr Ziel ist es, Organismen zu schaffen, die eine spezielle Aufgabe erfüllen können. Dazu nehmen sie genetische Bausteine und ordnen sie neu an. Gene werden von Signalen im Stoffwechsel, etwa einem Hormon, an- oder abgeschaltet. Das Produkt eines Gens, ein Protein, kann wiederum ein anderes Gen an- oder abschalten. Das ähnelt einem elektronischen Schaltkreis, bei dem beispielsweise ein Temperatursignal die Heizung regelt. Ähnlich wie in der Elektronik wollen synthetische Biologen nun auch Gene neu verdrahten. So entstehen "genetische Schaltkreise", die andere Funktionen ausführen als im Repertoire der Evolution üblich.

Ein Eindruck davon lässt sich im zweiten Stock des Gebäudes NE47 am Massachusetts Institute of Technology in Boston gewinnen. Jungforscher beugen sich über Mikroskope, überwachen Analysegeräte oder diskutieren Aufnahmen von vergrößerten Bakterien. Ron Weiss und seine Kollegen basteln an einer kühnen Vision: Sie wollen lebenden Zellen die Fertigkeiten eines Arztes beibringen. "Stellen Sie sich einen mikroskopisch kleinen Doktor vor, der jede Zelle in Ihrem Körper untersucht und versteht, ob dort etwas schiefläuft", erklärt Weiss. "Gibt es schädliche Genmutationen, ist eine Infektion oder ein Giftstoff vorhanden?" Falls ja, setze der zelluläre Doktor Signalstoffe im Blut oder Urin ab oder stelle einen passenden Wirkstoff her.

Die Vision ist realer, als sie auf den ersten Blick wirkt: Schon 2011 zeigte Ron Weiss zusammen mit Kollegen von der Bostoner Harvard University und der ETH Zürich, dass künstliche genetische Schaltkreise Diagnosen vornehmen können. Die Forscher schleusten einen DNA-Schnipsel in eine Zellkultur, die unter anderem menschliche Gebärmutterhalskrebszellen enthielt. "Wie eine App", scherzt Weiss. Der Schaltkreis entschied anhand der An- oder Abwesenheit sowie der Konzentration mehrerer krebstypischer Stoffe, ob eine Krebszelle vorlag oder nicht. Falls ja, löste er das Selbstmordprogramm der Zelle aus. Tatsächlich tötete der Schaltkreis Krebszellen mit hoher Trefferquote und ließ die meisten gesunden leben – ein vergleichsweise komplexer Vorgang, weshalb Ron Weiss auch von einem "biologischen Computer" spricht.

Das Prinzip will Isaak Müller nun anwenden, um Entzündungen des Darms in einem Rutsch zu diagnostizieren und zu therapieren. Im Labor des Gebäudes NE47 erklärt der Biochemiker seine Idee. "Ich versuche, Hefe zu programmieren, Entzündungen im Darm zu erkennen und zielgenau Wirkstoffe dagegen auszuschütten." Der genetische Schaltkreis soll einen Sensor für Entzündungsstoffe enthalten. Spricht dieser an, soll eine andere Komponente des Schaltkreises die Herstellung und Ausschüttung eines Entzündungshemmers veranlassen. Bislang müsse der Wirkstoff in den Körper injiziert werden, erläutert Müller. Dadurch verteile er sich auch außerhalb des Darms, wo die Gefahr drohe, dass normale, heilkräftige Entzündungen mitunterdrückt werden. Die umprogrammierte Hefe sei zudem relativ billig im Bioreaktor herstellbar. Das Endprodukt sollen die Patienten nach Müllers Vorstellung dann als Pille einnehmen. Bis dahin sei es aber noch ein weiter Weg. "Wir arbeiten gerade daran, unsere genetischen Schaltkreise in Mäusen zu testen."

Ron Weiss trimmt seine biologischen Schaltungen unterdessen bereits für das nächste Aufgabenfeld, die Ersatzteilproduktion: Er will ein ganzes Kollektiv von Zellen dazu bringen, Organe auszubilden. "Synthetische Morphogenese" nennt sich der Forschungszweig. Sogenannte Organoide, organähnliche Zellverbände, können zwar auch ohne synthetische Biologie im Reagenzglas gezüchtet werden. "Doch dafür braucht man kleine Gerüste, die die Form vorgeben", sagt Weiss. "Wir hingegen lassen die Organoide ohne Gerüste wachsen. Die Zellen finden von selbst heraus, was sie zu tun haben."

Aus einem klimatisierten Laborschrank balanciert Weiss' Mitarbeiter Patrick Fortuna eine Petrischale. Darin schwimmt eine glibberige, münzgroße Masse, die Fortuna "Leber" nennt. Weiss' Team lässt die Miniorgane aus Stammzellen wachsen, die zuvor aus Hautzellen gewonnen wurden. Die Wissenschaftler haben es immerhin schon geschafft, Organoiden aus Hirn- und Leberzellen zu sagen, in welchem Verhältnis die beiden Zellanteile stehen sollen. Irgendwann wollen die Wissenschaftler ihre genetischen Schaltkreise so ausgefeilt haben, dass sie an den maßgeschneiderten Organoiden Medikamente für Patienten testen können. Glückt das, könnte auch die große Hoffnung eines Ersatzorgans Wirklichkeit werden: Die Organoide würden dann im Körper von Patienten zu einer vollwertigen Leber oder einem Herz heranwachsen. Der Vorteil: Da sie aus den Hautzellen des Patienten entstehen, droht keine Abstoßung.

Doch nicht nur Krankheiten, sondern auch Umweltschäden wollen synthetische Biologen mit ihren Konstrukten bekämpfen. Speziell designte Bodenbakterien könnten etwa die Ausbreitung von Wüsten verhindern, schreibt Ricard Solé von der Uni Pompeu Fabra in Barcelona im "New Scientist". Schon kleine Klimaänderungen verwandeln trockene Böden mitunter in Wüstenlandschaft. Feuchtigkeit bindende Bodenbakterien könnten das laut Solé verhindern. Doch die wohnen in anderen Böden. Versuche, sie in trockene Gegenden zu verpflanzen, scheiterten bislang. Deshalb will der Biophysiker dort beheimatete Cyanobakterien mit entsprechenden Bioschaltungen ausstatten: Ins Genom eingebaute Sensoren sollen die Feuchtigkeit messen. Sinkt sie zu weit, löst der Schaltkreis die Produktion eines Feuchtigkeit bindenden Biomoleküls aus, so das Konzept.

Auch Umweltgifte sollen auf diese Weise entschärft werden. "Die synthetische Biologie kann uns helfen, Umweltprobleme zu lösen, die sonst nur schwer zu bewältigen wären", sagt Victor de Lorenzo vom Nationalen Zentrum für Biotechnologie in Madrid. Sein Team hat fünf Gene aus drei verschiedenen Mikroorganismen in das Bodenbakterium Pseudomonas Putida eingebaut. Die Gene produzieren Enzyme, die in der Natur normalerweise nicht zusammenwirken. "Der Designerstoffwechsel arbeitet auch unter anaeroben Bedingungen", erklärt Pablo Ivan Nikel von der TU Dänemarks in Kopenhagen, Mitautor der Studie. Das sei wichtig, weil viele Umweltgifte in tiefe, sauerstoffarme Bodenschichten absinken. So auch das in Deutschland verbotene, andernorts aber noch gebräuchliche Pestizid 1,3-Dichlorpropen. Es lässt sich mit der neuen Anti-Gift-Mikrobe abbauen.

In ersten Ansätzen funktioniert die synthetische Biologie also schon. Nun müssen die Forscher die Maschinerie des Lebens jedoch stotterfrei zum Laufen bringen. (bsc)