Ende der Tarnung

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Der Vorteil von CureVacs Ansatz: RNA verhält sich biochemisch immer gleich, egal für welches Protein sie kodiert. Protein-Impfstoffe hingegen haben jeweils unterschiedliche chemische Eigenschaften und müssen deshalb einzeln auf problematische Effekte wie eine Allergie auslösende Wirkung getestet werden. Bei der CureVac-Impfung ist das anders: "Erst wenn die RNA in eine Zelle gelangt, wird sie in ein Protein übersetzt, das dann als Impfstoff fungiert", sagt Hoerr. Wie genau das Immunsystem dann gegen dieses Impf-Protein aktiviert wird, das haben weder der Biologe noch andere Forscher bislang entschlüsseln können. Die Immunabwehr reagiert vermutlich auf die RNA, weil sie sich irrt – sonst stammen große Mengen fremder RNA in der Regel von Viren, die natürlich bekämpft werden. Auch die meisten RNA-Impfmoleküle werden nach der Aufnahme in die Zellen aus dem Verkehr gezogen. Aber für einige gibt es offenbar eben doch ein Schlupfloch, und sie werden in ein Krebsprotein übersetzt. Sicher ist jedenfalls, dass die Abwehr auch dann provoziert wird, wenn es sich um den RNA-Code für ein Protein handelt, das sie sonst nicht angreift, weil sie es für körpereigen hält. Und das ist für die Behandlung von Krebs entscheidend, denn auch entar-tete Zellen bestehen aus körpereigenen Proteinen – sorgen allerdings irgendwie dafür, dass diese toleriert werden.

"Wenn aber so ein Protein mit einem Gefahrsignal zeitlich und örtlich zusammen auftritt, dann kann die Toleranz gebrochen werden", sagt Hoerr. Deshalb wird Impfstoffen immer auch ein sogenanntes Adjuvans, ein Gefahrsignal, beigemischt – beispielsweise der Gerbstoff Alaun. Bei CureVacs Impfung ist es gleichsam schon eingebaut – die RNA ist nicht nur Schnittmuster für die Piratenflagge, sondern wirkt gleichzeitig auch als Alarmsignal. "Damit ist die RNA ein Minimalimpfstoff, in dem schon alles Nötige enthalten ist", sagt Hoerr. Inzwischen hat CureVac in einer kleinen Studie mit 33 Prostatakrebs-Patienten die Dosierung und Verträglichkeit des Vakzins auch bei Menschen getestet. "Es sind keine nennenswerten Nebenwirkungen aufgetreten", fasst Hoerr das Ergebnis zusammen. Der Impfstoff scheint genau das anzustoßen, was der Körper sonst ohne Hilfe nicht schafft: "Bei 79 Prozent der Prostatakrebs-Patienten haben wir eine Immunantwort messen können." Bei einer zweiten Studie mit 46 Lungenkrebs-Patienten, die zuvor mit Chemotherapien behandelt worden waren, waren es laut CureVac 84 Prozent. Nun muss der Impfstoff in weiteren Studien mit größeren Testgruppen die geweckten Erwartungen rechtfertigen.

Um so weit zu kommen, musste das 2000 gegründete Firmenschiff CureVac in den ersten Jahren eine finanzielle Schlagseite überwinden: Nach dem Platzen der Internet-Blase wollte niemand mehr in Biotechnologie investieren. Das bis dahin mühsam eingeworbene Kapital in Höhe von drei Millionen Euro reichte aber nicht aus, um die Therapie-Idee in klinischen Studien zu testen, geschweige denn bis zur Zulassung zu bringen. Doch Hoerr und seine Mannschaft machten aus der Not eine Tugend – sie schufen sich ein zweites Standbein und bauten ein Speziallabor für die Produktion von maßgeschneiderten RNA- und DNA-Sequenzen auf, die sie an Universitäten und Biotechfirmen verkaufen. Doch erst als der Biotech-Mäzen Dietmar Hopp, der sein Vermögen mit der Software-Firma SAP gemacht hatte, 2005 über seine Beteiligungsfirma Dievini 23,4 Millionen Euro in CureVac investierte, konnte Hoerr die klinischen Tests starten. Nach den ersten vielversprechenden Untersuchungen stehen nun Langzeitstudien mit mehr Patienten auf dem Programm. Sie sollen in diesem Jahr beginnen, mit Ergebnissen ist aber frühestens 2015 zu rechnen.

Auch andere Krebsforscher warnen davor, von Krebsimpfstoffen zu schnelle Erfolge zu erwarten. Zwar befindet sich schon eine Reihe von Vakzinen in fortgeschrittenen Entwicklungsstadien, und zwei wurden bereits zugelassen: 2009 kam die Prostatakrebs-Therapie Provenge der US-Biotech-Firma Dendreon auf den Markt. Bei dieser Therapie werden den Patienten Immunzellen entnommen, im Labor mit Krebsproteinen trainiert und anschließend wieder in den Körper gespritzt. Provenge habe in klinischen Tests das Voranschreiten der Krebserkrankung lediglich um einen Monat hinauszögern und die Überlebenszeit der Patienten insgesamt um vier Monate verlängern können, sagt Thomas Blankenstein, Krebsforscher am Berliner Max-Delbrück-Centrum. "Das ist zwar nicht nichts, aber auch nicht viel." Worauf die leicht verbesserte Überlebenszeit beruht, sei unklar, weil die Immunantwort der Patienten nicht mit einem messbaren Therapieerfolg einherging.

Auf den ersten Blick bessere Ergebnisse erzielte der Protein-Wirkstoff Ipilimumab der britischen Pharmafirma Bristol-Myers-Squibb. Der spezialisierte Antikörper wurde im März 2011 von der US-Behörde FDA zugelassen. Er verlängert die Überlebenszeit der Patienten mit Hautkrebs im kaum behandelbaren späten Stadium im Schnitt um zehn Monate. Der als Yervoy vermarktete Impfstoff blockiert auf der Zelloberfläche einer Immunzellsorte namens T-Zellen ein Protein, das sonst kurioserweise die Abwehrreaktion der Immunzellen gegen Krebs bremst. Doch diese Therapie kann offenbar hochriskant sein: 13 Prozent der Patienten erlitten zum Teil schwere oder sogar tödliche Autoimmunreaktionen, bei denen das Immunsystem plötzlich auch gesundes Gewebe angriff.

Philipp Beckhove vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg rechnet noch aus einem weiteren Grund damit, dass schnelle Erfolgsmeldungen bei Krebsimpfungen unwahrscheinlich sind: Klinische Studien achten bisher primär darauf, ob der Wirkstoff den Tumor schnell schrumpfen lässt. "Bei Immuntherapien ist aber erst nach langer Verzögerung ein Einfluss auf das Tumorwachstum zu erwarten, dafür aber ein anhaltender", sagt der Wissenschaftler. Tatsächlich gerät nun die lange umstrittene Praxis, nur auf den schnellen Erfolg zu schauen, der womöglich nichts über den langfristigen Erfolg aussagt, ins Wanken: Die Laufzeit der Studien, in denen Krebsimpfungen bisher nur auf eine unmittelbare Verkleinerung des Tumors hin getestet wurden, wird nun verlängert.

Möglicherweise wird es also noch Jahre dauern, bis Krebsimpfstoffe Patienten langfristig überleben lassen und sie vor dem Rückfall schützen. Bis dahin wäre es ein wichtiges Etappenziel, zumindest die Metastasenbildung zu unterbinden oder stark zu verlangsamen. Onkologen mahnen schon länger, dass Patienten selten an den Folgen ihres Primärtumors sterben, die oft leicht zu entfernen oder zu zerstören sind; das weitaus größere Problem sind die im Körper verstreuten Metastasen.

Das Tübinger Biotech-Unternehmens Immatics hat mehrere Impfstoffe gegen Krebs entwickelt, die als eine Art chemischer Fingerabdruck eine spezialisierte Immunantwort provozieren. Einer davon, der Nierenzellkrebs-Impfstoff IMA901, bewirkt offenbar die geforderte Verlangsamung des Metastasenwachs-tums – und lässt die Tochtergeschwulste sogar schrumpfen. Dadurch verlängerte das Vakzin im Versuch die durchschnittliche Überlebenszeit der Patienten von ein bis anderthalb auf zwei Jahre. IMA901 durchläuft bereits die letzte Phase der klinischen Tests, nach der im Erfolgsfall der Zulassungsantrag folgen kann. Wie stark der Erfolg der Krebsimpfstoffe ausfallen wird, muss sich noch zeigen.

Auch CureVac muss belegen, dass seine RNA-Impfstoffe Krebskranke nicht nur wenige Monate länger leben lassen. Aber selbst wenn noch einiges an Entwicklungsarbeit geleistet werden muss – es könnte der Ansatz zu einer grundlegend neuen Krebstherapie sein. "Trotz aller Schwierigkeiten, die wir umschiffen mussten, hätte ich das Experiment, mit dem alles begann, nie und nimmer einfach ignorieren können", sagt Hoerr. "Ich würde mich schwarz ärgern, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte, daraus ein Medikament zu machen." (bsc)