Es geht auch sicherer

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Die Rettungsboote der "Estonia" waren vergleichsweise klein. Heute sind die größten schon fast selbst Passagierschiffe und für einen Einstieg aus dem Wasser gar nicht mehr vorgesehen. Sie finden sich etwa an Bord der beiden mächtigsten Kreuzfahrtschiffe der Welt, der "Oasis of the Seas" und der "Allure of the Seas" – 17 Meter lange, motorisierte Doppelrumpfboote, in denen jeweils 370 Passagiere auf zwei Ebenen unterkommen. Insgesamt bieten die 20 Boote Platz für alle 7400 Passagiere und Besatzungsmitglieder.

Ulrich Schmidt kann da nur den Kopf schütteln: "Von diesen Megabooten halte ich gar nichts. Je mehr Menschen an Bord passen, umso mehr Schwierigkeiten gibt es im Evakuierungsfall." Eine Panik unter so vielen Menschen auf so engem Raum könne niemand mehr in den Griff bekommen.

Aufblasbare Rettungsinseln, wie sie zusätzlich an Bord mitgeführt werden, bieten keine Alternative. Sie sind ziemlich sinnlos, wenn die Menschen sie nicht direkt von Bord des havarierten Schiffs trocken besteigen können. Aus dem Wasser einzusteigen ist selbst bei gutem Wetter schwierig, eine leblos im Wasser treibende Person in die Rettungsinsel zu ziehen fast unmöglich. Bei aufgewühlter See, peitschender Gischt, panischer Angst und möglicherweise fortgeschrittenem Alter dürfte es völlig unmöglich sein, sich selbst oder andere auf diese Weise zu retten.

Sicherheitsexperte Schmidt sieht eine echte Alternative nur in den sogenannten Freifall-Rettungsbooten, wie man sie heute am Heck vieler Frachter oder an Bohrinseln sehen kann. Die Schiffbrüchigen betreten diese motorisierten Boote durch eine Hecktür, schnallen sich mit dem Rücken zur Fallrichtung in Sesseln an und fixieren den Kopf mit einem Klettband an der Kopfstütze. Mit einem einfachen Hebel lässt sich das Boot entriegeln, das dann mit dem Bug voran ins Meer stürzt. Es taucht ein paar Meter unter die Wellen, kommt wieder hoch und schwimmt dann durch den Schub des schrägen Falls weit vom Schiff weg. Bei Kreuzfahrtschiffen haben sich Freifall-Rettungsboote aber nicht durchsetzen können. Einige Reeder fürchten, dass sie durcheinanderpurzeln und sich gegenseitig schwer beschädigen, wenn sie aus mehr als zehn Metern Höhe ins Meer fallen. Anderen nehmen sie zu viel Platz weg – die Reedereien müssten dafür auf einige der teureren Kabinen verzichten: Erlebnis-Architektur schlägt Sicherheit.

Auf einigen Kreuzfahrtschiffen, etwa der "Oasis", der "Allure" und der "Aida"-Flotte sowie auf vielen Großfähren sind inzwischen aufblasbare Rettungsschläuche mit angeknöpften Rettungsinseln installiert, in die alle Passagiere hinunterrutschen. Solche sogenannten Marine Evacuation Systems (MES) haben sich durchaus bewährt. Trotzdem rüsten nur wenige Reedereien ihre Schiffe damit aus. Auch für hilflos in der See treibende Personen gibt es heute, 18 Jahre nach der "Estonia"-Katastrophe, Rettungsmethoden, die dem Bergungstod vorbeugen, indem sie helfen, die Ertrinkenden in waagerechter Lage zu bergen. Zum Beispiel der "Sealift", eine 25 bis 70 Quadratmeter große Netzplattform, die – etwa von Bord eines Rettungsfahrzeugs aus – an einem Stahlarm seitlich über die Reling geschwenkt, ins Wasser getaucht und unter den Ertrinkenden gezogen werden kann. Beim Hieven bleibt der Verunglückte auf dem Netz liegen. Dieses ist so stark, dass sich damit ganze Rettungsinseln auffischen lassen.

Mechanisch aufwendiger ist der "Rescue-Shuttle", ein Katamaran, zwischen dessen beiden Schwimmern ein zwei Meter breiter, nach unten offener Netzkäfig schwebt. Das Gerät lässt sich am besten vom Hubschrauber aus einsetzen, könnte aber auch auf größeren Schiffen bereitgehalten werden. Nachdem die Retter den Katamaran über den Ertrinkenden gezogen haben, dreht der Käfig sich in der Längsachse und nimmt dabei den Verunglückten auf. Danach dreht sich die Öffnung nach oben, sodass die Person vor dem Herausfallen gesichert ist. Ein Helfer, der in rauer See mit dem Shuttle herabgelassen wird, kann den Verunglückten auch gezielt in den Käfig hineinbugsieren.

Doch in aufgewühlter See einen Menschen überhaupt zwischen den Wellen auszumachen und ihn nicht aus den Augen zu verlieren, ist ein großes Problem. Eine Lösung könnte der automatisch gesteuerte Agapas-Rettungsroboter bieten, der ähnlich wie der Rescue-Shuttle funktioniert, aber teilautonom arbeitet. Dafür muss allerdings ein kleiner Sender in die Rettungswesten eingearbeitet sein. Der Rettungsroboter bewegt sich im Wasser selbstständig auf den Funksender zu und übermittelt gleichzeitig dessen Positionsdaten, sodass die Helfer auf dem Rettungskreuzer genau erkennen können, wo der Schiffbrüchige treibt. Mithilfe eingebauter Fernseh- und Infrarotkameras dirigieren die Helfer den Roboter dann direkt an den Ertrinkenden heran. Der klappt seinen Netzkorb über den Ertrinkenden und schwimmt automatisch mit ihm zum Schiff, wo er mit einem Kran aufgenommen wird.

Ob Agapas sich durchsetzt, ist indes ungewiss. Eine erste Version, genannt "Rettungsdelfin", wurde vor zehn Jahren vorgestellt, galt aber als nicht ausgereift. Der Delfin wurde zu einem Messgerät für die Meeresforschung umgebaut.

Die Evakuierung eines sinkenden Schiffs ist immer nur das allerletzte Mittel. Wenn auf der Brücke die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit gefällt werden, kann es sich oft noch lange an der Wasseroberfläche halten und Hilfe abwarten. Aber im Seenotfall bleibt auch eine Schiffsführung alles andere als gelassen. Da helfen computergestützte Beratungssysteme, die so klar und eindeutig Ratschläge und Zustandsberichte liefern, dass auch Menschen in Panik sie verstehen und irgendwann auch die Fassung wiedergewinnen.

Auf der Fähre "Mecklenburg-Vorpommern", die zwischen Rostock und dem südschwedischen Trelleborg verkehrt, ist das Notfall-Beratungssystem "Madras" installiert. Bei Feuer und Wassereinbruch, bei Grundberührung, Rettungsaktionen und bei der Evakuierung der Fähre erscheinen klare Textanweisungen auf dem Computerbildschirm, die der Schiffsführung sagen, was als Nächstes zu tun ist.

"Da fließen das individuelle Sicherheitskonzept der Reederei ein, die Bauart des Schiffs, sein Seeverhalten, aber auch, wer an Bord wofür zuständig ist, das gesamte Management des Schiffs eben", erklärt Dirk Dreißig, Geschäftsführer der Rostocker Ingenieurgesellschaft für maritime Sicherheitstechnik und Management (MARSIG), die das System entwickelt hat. Die laufenden Informationen aus dem Schiffsbetrieb und die Vorgänge während eines Störfalls erhält der Rechner über doppelt ausgelegte Kabel von zahlreichen Messpunkten im Schiff, die Temperaturen, Wasserstände oder Rauch erfassen. Dringt etwa Wasser ein, so zeigt der Bildschirm nicht nur an, wie stabil das Schiff noch schwimmt, sondern auch, welche Maschinen wahrscheinlich ausfallen werden, wenn das Wasser bestimmte Bereiche im Schiff erreicht.

Eigentlich müsste "Madras" gleich beim Bau eines Schiffs berücksichtigt werden. Da ein Beratungssystem aber nicht vorgeschrieben ist, ordern Reeder derzeit höchstens einzelne Module zum Nachrüsten, in erster Linie Passagier- und Fährschiff-Reedereien, aber auch Eigner von Öl- und Gastankern.

Weil die Software eigentlich ein Simulationsprogramm ist, lässt sie sich auch als Grundlage für Sicherheitsschulungen in virtuellen Realitäten nutzen. Solche Ausbildungen sind für Schiffsbesatzungen neuerdings periodisch vorgeschrieben. Die Billiglösung, Auffrischungsübungen an Bord, ist nicht mehr zugelassen.

Diese Trainingseinheiten für Offiziere berücksichtigen übrigens inzwischen auch den Fall, dass ein Kapitän völlig in Apathie verfällt oder vorzeitig von Bord geht, an Land fährt und in einem Taxi verschwindet, so wie der Kapitän der "Costa Concordia". Dessen Offiziere hatten ihr letztes Training aber wohl zu einer Zeit, als diese Situation noch nicht einprogrammiert war. Anders ist das Chaos bei der Evakuierung kaum erklärbar, das vermutlich mehr als 30 Menschen ihr Leben kostete. (bsc)