Euro 2024: Hat der Video Assistant Referee Dänemark betrogen?
Nach dem Achtelfinale des DFB-Teams gegen Dänemark hagelt es Kritik am Videobeweis: Einige fordern mehr Menschenverstand, andere halten die Technik für ungenau.
Die Entscheidungen des Video Assistant Referees (VAR) bei der Fußball-EM sorgen für hitzige Diskussionen. Im Achtelfinale zwischen Deutschland und Dänemark fühlte sich eine ganze Nation durch zwei Videobeweise betrogen – allen voran der dänische Nationaltrainer Kasper Hjulmand. Nach dem Spiel machte er seinem Ärger Luft und kritisierte die knappe Abseitsentscheidung, die zur Annullierung eines Tors der Dänen geführt hatte. So solle man den Videobeweis nicht einsetzen, es seien nur Zentimeter gewesen. Nur wenige Minuten nach dieser Szene führte ein weiterer Videobeweis für Diskussionen: Eine Flanke von David Raum streifte die Hand des Dänen Joachim Andersen im eigenen Strafraum, wie die Auswertung des Beschleunigungssensors im Spielball bewies.
Im Netz wird nun einerseits die Genauigkeit des VAR-Systems angezweifelt ("Denmark ROBBED? Correct decisions?"), andererseits auch die strenge Auslegung der Abseits- und Handspielregel kritisiert.
Ultrabreitbandsensor im Ball erkennt Handspiele
Dass das Handspiel erkannt wurde, liegt unter anderem an der Connected-Ball-Technologie von Adidas und Kinexon. Im EM-Spielball "Fußballliebe" ist ein 14-Gramm-Kästchen mit Ultrabreitbandsensor (UWB) und Bewegungssensor (Inertial Measuerment Unit, IMU) verbaut. Die Beschleunigungssensoren messen 500-mal pro Sekunde, ob und wie der Ball berührt wurde. Damit lässt sich exakt bestimmen, wann eine Ballberührung mit der Hand stattgefunden hat. Dass der Ball Andersens Hand berührt hat, ist also unstrittig. Aber war die Berührung elfmeterwürdig?
Ex-Nationalspieler Michael Ballack hat dazu eine sehr klare Meinung. Bei Magenta TV echauffierte er sich über die Handregel, die keine Rücksicht mehr auf absichtliches oder unabsichtliches Handspiel nehme. "Wie willst du denn aus einem Meter den Arm runternehmen, der kann doch gar nicht reagieren". Er forderte: "Dieses Ausschlag-Ding [...] können wir gleich abschaffen." Stattdessen solle man nach Menschenverstand urteilen und eine Regel oder eine Interpretation finden, wann es ein elfmeterwürdiges Handspiel sei – ignorierend, dass genau das seit Jahrzehnten für Diskussionen sorgt. Auch der bestrafte Joachim Andersen hält die Regelauslegung unter anderem wegen fehlender Reaktionsmöglichkeit für eine "verrückte Entscheidung".
Der ehemalige englische Nationalstürmer Alan Shearer brachte seine Kritik bei X noch schneller auf den Punkt:
Vor Einführung des VAR hätte indes die deutsche Fußballnation die Entscheidung des Schiedsrichters Michael Oliver angeprangert, falls er nach Ermessen entschieden und keinen Elfmeter gegeben hätte. Nun wurde er nicht nur von den Dänen scharf angegriffen, weil er sich auf den Videobeweis gestützt hat.
Zwölf Kameras tracken 29 Körperpunkte der Spieler
Während das Handspiel sowohl sicht- als auch messbar war, dürfte die anfangs angesprochene Abseitsentscheidung für den Linienrichter kaum zu erkennen gewesen sein, da der Däne Thomas Delaney bei der Ballabgabe tatsächlich nur eine Fußbreite im Abseits stand.
Bei X, TikTok oder anderen sozialen Netzen wird indessen die Genauigkeit des Systems angezweifelt, denn die zwölf unter den Stadiondächern montierten Kameras würden ja nur 50 Bilder pro Sekunde machen, dies sei zu ungenau für eine zentimetergenaue Entscheidung. Das wäre grundsätzlich korrekt, wenn es nur eine Kamera geben würde. Doch weil das System die Aufnahmen mehrerer Kameras zu einem 3D-Modell kombiniert, lässt sich die Genauigkeit deutlich steigern. Mittels Algorithmen des KI-Frameworks "SkeleTRACK" von Hawk-Eye werden pro Spieler 29 Körperpunkte erfasst, und daraus in Echtzeit ein 3D-Skelett berechnet.
KI erkennt Gliedmaßen und ordnet sie Spielern zu
In unübersichtlichen Spielsituationen, wenn sich Körper überlagern, ist es eine Herausforderung, die Gliedmaßen den richtigen Spielern zuzuordnen. Hier kommt Künstliche Intelligenz ins Spiel: Speziell trainierte Deep-Learning-Algorithmen, sogenannte Deep Convolutional Neural Networks, wurden anhand tausender Beispielbilder darauf trainiert, Körperteile zu erkennen und einem Skelett zuzuordnen.
Aus der Kombination der 3D-Skelette aller 22 Spieler auf dem Platz berechnet das System dann, ob bei einem Zuspiel eine Abseitsstellung vorlag oder nicht. Die Entscheidung wird anschließend in einer 3D-Animation visualisiert und dem Schiedsrichter sowie den Zuschauern präsentiert. Die FIFA erläutert die Semi Automatic Offside Technology (SAOT) in einem YouTube-Video, das man leider nicht auf anderen Webseiten einbinden darf.
Ein weiterer Kritikpunkt des dänischen Trainers und in den sozialen Medien: Selbst wenn das System genau genug arbeite, um die Spielerposition auf den Zentimeter genau zu ermitteln, wisse man aber nicht, wann der Ball den Fuß des flankenden Mitspielers verlassen habe. Dank der bereits bei der Handspielerkennung erwähnten Beschleunigungssensoren im Ball weiß man das jedoch sehr genau, da der Sensor alle 0,002 Sekunden einen Beschleunigungswert ermittelt. Der VAR friert die Positionen aller Spieler zum Zeitpunkt der Ballabgabe ein und ermittelt zentimetergenau, ob sich zwischen dem Angreifer und dem gegnerischen Tor noch zwei Spieler des anderen Teams befinden. Typischerweise wären das ein Feldspieler und der Torwart.
Spielfluss leidet durch lange Pausen
Das aufwendige Trackingsystem und die Sensorik im Ball helfen zwar, Fehlentscheidungen zu minimieren, führen aber zu neuen Diskussionen und sind längst noch nicht akzeptiert, wie beim gestrigen Achtelfinale deutlich wurde. Eines ist unstrittig: Der Spielfluss wird durch die Videobeweise länger unterbrochen – glücklicherweise arbeitet der VAR inzwischen deutlich schneller als bei der Einführung vor einigen Jahren.
Dank des Videoassistenten können die Schiedsrichter jedoch auch Spielzüge länger laufen lassen und erst nach Abschluss prüfen, ob es Regelverletzungen gab. Dadurch fallen mehr Tore, die dafür umso häufiger nachträglich aberkannt werden als zuvor. Nicht nur die Fans von Dänemark dürften sich fragen, ob die sehr auf Technik angewiesene Regelauslegung dem Fußball guttut. Die hitzige Debatte um den Einsatz des VAR wird wohl auch mit noch genaueren Systemen jedenfalls noch lange nicht beendet sein.
(vza)