"Ewigkeitschemikalien": Schaden durch PFAS war lange unterschätzt

Seite 2: Das Problem der "ewigen Chemikalien"

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Ein Rätsel ist, wie viele Substanzen die Chemikaliengruppe überhaupt umfasst. Nach einer Zählung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gehören ihr 4.730 verschiedene Verbindungen an. Zugrunde liegen der Zahl aber nur Melderegister-Nummern, und unter verschiedenen Nummern kann sich ein und dieselbe Substanz verbergen. Viele der Chemikalien haben auch gar keine technische Bedeutung mehr oder hatten nie eine. Wie viele also tatsächlich in Umlauf sind, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Die Outdoorjacke hält dicht dank der wasserabweisenden PFAS.

(Bild: Shutterstock)

Unklar ist auch, wer genau sie in welchen Mengen verwendet. Bekannt ist nur, dass etwa 50 Prozent der weltweit produzierten PFAS im Textilbereich angewendet werden. Das haben Forscher des Zentrums für Umweltforschung und Nachhaltige Technologien der Universität Bremen 2018 in einer Risikobewertungsstudie ermittelt. Allerdings ist die Gesamtmenge in Tonnen kaum zu beziffern. Eine Abfrage des Umweltbundesamtes aus dem Dezember 2019 unter zwölf Herstellern lässt nur erahnen, in welchen Größenordnungen PFAS eingesetzt werden. Etwa 10.000 Tonnen pro Jahr sollen als Zwischenprodukte allein in der EU im Umlauf sein. Einen Rückschluss auf einzelne Verbindungen lassen diese Zahlen jedoch nicht zu, denn häufig wissen die Produzenten von Polymeren, die ihre Kunststoffe mit PFAS veredeln, gar nicht, was genau während des Produktionsprozesses im Material geschieht – sie sehen nur die verbesserten Eigenschaften. Auch erfasst diese Erhebung längst nicht alle Hersteller. Große Produzenten aus Russland, Indien oder China fehlen in der Bilanz.

Vom Wundermittel zum globalen Problem

Die Geschichte der PFAS hat in den 1950er-Jahren in den USA begonnen: Bei 3M als Imprägniermittel Scotchgard und in den Teflonbeschichtungen aus dem Haus DuPont mit dem Stoff Perfluoroctansäure, kurz PFOA. Dieses PFOA gehört zusammen mit dem inzwischen verbotenen PFOS (Perfluoroctansulfonsäure) zu den am häufigsten verwendeten und am besten untersuchten Stoffen dieser Klasse. Allen gemeinsam ist, dass sie zu den organischen Verbindungen gehören: Sie haben ein Kohlenstoffgerüst, das hauptsächlich mit dem Halogen Fluor kombiniert ist. Es gibt sie in lang, in kurz, in verzweigt, in kettenförmig, mit unterschiedlichen Anhängseln. Der Kreativität der Chemie sind bei der Bildung von PFAS kaum Grenzen gesetzt. Und jede Verbindung hat individuelle Eigenschaften. Grundsätzlich gelten zwar langkettige PFAS als gefährlicher für Menschen als kurzkettige, da die längeren Moleküle im Blut nachweisbar sind. Genaue toxikologische Daten für Einzelverbindungen gibt es jedoch kaum.

Auf das Problem aufmerksam geworden sind Behörden und NGOs in Europa und den USA letztlich erst durch Umweltskandale. Den Anfang in Deutschland machte 2006 eine Düngemischung mit Abwasserschlämmen aus der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, die als Bodenverbesserer auf landwirtschaftliche Flächen in Nordrhein-Westfalen verteilt wurde. Die PFAS aus diesen Schlämmen fanden Wissenschaftler der Uniklinik Bonn zufällig bei einem Untersuchungsprogramm der Flüsse Ruhr und Möhne. Welches Ausmaß die Verbreitung von PFAS in der Umwelt angenommen hat, zeigten dann erstmals weltumspannende Umweltanalysen von Greenpeace 2015. Besonders im Fokus von Greenpeace: mit PFAS imprägnierte Outdoorkleidung.

Wie viel also weltweit hergestellt wird: unbekannt. Welche dieser Stoffe in größeren Mengen im Umlauf sind: unbekannt. Welche Folgen die meisten PFAS auf den Organismus haben: unbekannt. Sicher ist nur, was der Beiname "ewige Chemikalien" nahelegt: Das Problem wächst stetig, statt sich von selbst zu erledigen. Alternativen sind zwar in der Diskussion, aber sind sie wirklich besser? Als ungefährlicher gelten Verbindungen mit kürzeren Ketten, die im Blut nicht nachweisbar sind.

PFAS in Muffin-Papierchen schützen das Papier vor dem Durchweichen.

(Bild: Shutterstock)

Der Chemiegigant DuPont etwa hatte 2020 in den USA eine Zulassung für 40 dieser Varianten erhalten. Manfred Santen sieht Alternativen jedoch kritisch: "Wir vergleichen das mit den Weichmachern in PVC. Nachdem man wusste, die sind gefährlich, ist man auf weniger gefährliche umgeschwenkt, und zwei, drei Jahre später kommen die ersten Studien, die sagen, das ist auch gefährlich." Zudem werden häufig zwar kurzkettige PFAS eingesetzt, in den Produktionsprozessen dann aber zu langkettigen zusammengefügt.

Bleibt wohl nur das aktuell diskutierte komplette Verbot. Die Frage ist, ob Konsumenten künftig tatsächlich wieder den Regenschirm statt der Outdoorjacke nehmen oder angebranntes Essen aus einer gusseisernen Pfanne akzeptieren.

(jle)