Gasspeicher: Wie viel Spar-Potenzial die deutsche Industrie bietet

Eine neue Analyse zeigt, wie die erdgasbasierte Produktion in Deutschland den Stopp russischer Gaslieferungen auffangen könnte. Doch Verfehlungen werden klar.

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(Bild: muratart/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Der drohende Ausfall russischen Erdgases wäre für die Industrie eigentlich Motivation genug, jetzt noch schneller auf Elektrifizierung, Effizienz, Ersatzprodukte und erneuerbare Energien zu setzen. Doch stattdessen sollen alte Ölkessel fit gemacht und Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen von Gas auf Kohle umgestellt werden.

Deutschland verbraucht rund 900 Terawattstunden (TWh) Erdgas im Jahr, was knapp 90 Milliarden Kubikmeter bedeutet. Mehr als die Hälfte davon stammten einst aus Russland. Industrie und Haushalte verbrauchen davon je knapp 30 Prozent, Gewerbe und Energieerzeuger stehen für den Rest.

Eine Analyse des wirtschaftswissenschaftlichen Exzellenzclusters ECONtribute an den Universitäten Köln und Bonn kommt zu dem Schluss, dass Deutschland bei einem Komplettausfall russischer Gaslieferungen seinen Gasverbrauch bis zum Ende der kommenden Heizperiode im April 2023 um etwa 25 Prozent reduzieren muss, was etwa 220 TWh entspricht – selbst wenn die geplanten Flüssiggasterminals an der Küste zum Winter hin in Betrieb gehen.

Die Politiker drängen deshalb auf Sparsamkeit. Aber nicht nur die Bürger, auch die Industrie soll mehr zu tun.

Dabei haben die Unternehmen über Jahre hinweg versäumt, wirkliche Innovationen umzusetzen und tragfähige Lösungen für ihren zukünftigen Energiebedarf oder für Ressourcen schonende Produkte zu finden. Schließlich ist ja nicht erst seit gestern klar, dass die Welt dringend ihren CO2-Ausstoß reduzieren muss, was heißt, das Verbrennen fossiler Energie und die Herstellung von fossil basierten Produkten einzustellen – eben auch die Nutzung von Erdgas.

Aber Moritz Schularick, Mitautor der ECONtribute-Analyse macht Mut: "Deutschland kommt ohne russisches Gas durch den Winter, Panikmache ist fehl am Platz." Allerdings heißt das durchaus auch, dass Produktionen zurück gefahren werden müssen.

Aber schließlich muss Deutschland auch nicht alles selbst produzieren. Gasintensive Produkte lassen sich aus Ländern importieren, die nicht von russischem Gas abhängen. Die Bundesregierung könne den Aufbau neuer Lieferketten für Grundstoffe fördern, indem sie sich für zeitweise niedrigere Einfuhrzölle auf die Produkte einsetzte, heißt es in dem Papier.

BASF, die allein am Stammsitz Ludwigshafen mit 37 TWh pro Jahr so viel Erdgas wie die ganze Schweiz verbraucht, setzt das bereits um. Sie fuhr die Ammoniakproduktion in Deutschland zurück und kauft diesen Grundstoff aller Stickstoffverbindungen woanders ein oder produziert ihn in einem der US-Werke. So lassen sich auch die von Unternehmensverbänden als Schreckensszenarien aufgebauten Kaskadeneffekte vermeiden, nach denen Unternehmen in Bedrängnis kommen könnten, die diese Vorprodukte brauchen.

Hinzu kommt, dass bei überall steigenden Preisen die Nachfrage natürlich sinkt. Die ECONtribute-Forscher glauben, dass Deutschland auch ohne Gas-Importstopp in eine Rezession gerät. Denn die Energiepreise begannen bereits vor einem Jahr extrem stark zu steigen, lange vor dem Ukraine-Krieg. So auch der Erdgaspreis.

In den Niederlanden führte der Preisanstieg dazu, dass der industrielle Gasverbrauch zwischen Januar und Juli 2022 um satte 25 Prozent sank. Große Einbrüche in der Produktion gab es deswegen nicht. Für die Autoren der ECONtribute-Analyse ein wichtiges Indiz dafür, dass die Substitutionsmöglichkeiten bei steigenden Erdgaspreisen zum Teil erheblich sein müssen.

Über Jahre hinweg haben die Industrien versäumt, echte Innovationen umzusetzen. Seit 60 Jahren ist klar, dass fossilbasierte Produktionen Auslaufmodelle sind. Alternativen gibt es zwar. Sie kamen aber kaum über Pilotphasen hinaus oder konnten sich nicht schnell genug durchsetzen.

In der chemischen Industrie spielen die so genannten Steamcracker die zentrale Rolle. In ihnen wird Naphtha, das Ölraffinerien herstellen und zuliefern, zusammen mit Wasserdampf erhitzt, wodurch es in kürzere Moleküle zerfällt. Die dienen dann als Grundlage für weitere Produktsynthesen, wie Ethen und Propen für die Plastikproduktion, oder Aromaten für Lösungsmittel. Unternehmen verlagern diese gewaltigen Erdgasfresser übrigens schon seit einiger Zeit an europäische Küsten in die Nähe von LNG-Terminals.

So auch die Kupferhütte Aurubis in Hamburg mit ihrem Werk in Belgien. Sie könnte ihren Energiebedarf allerdings auch mit Ammoniak oder Strom decken, wie ihr Sprecher Meino Hauschildt dem "Hamburger Abendblatt" sagte. Dabei trifft der Ausfall russischen Erdgases die Industriefirmen im Norden und Westen der Republik sowieso eher wenig, weil sie überwiegend aus der Nordsee versorgt werden, vor allem aus Norwegen.

Ein echtes Problem haben derzeit aber die Glashersteller. Ihre Glas-Schmelzwannen, rund 10 Millionen Euro das Stück, müssen zehn bis 15 Jahre halten und während dieser Zeit permanent auf 1.600 Grad gehalten werden. Vorwiegend mit Erdgas. Würde die Heizung spontan ausfallen, würde das Glas erstarren und die Anlage zerstören. Ein kontrolliertes Herunterfahren ist möglich, aber äußerst zeitaufwendig.

Zumindest die großen Unternehmen können auch hier diversifizieren. So die Glasfabrik Gerresheimer aus Düsseldorf mit ihren 47 Standorten in Europa, Asien und Amerika. Sie lässt jetzt stärker dort produzieren, wo russisches Gas kaum interessiert.

Laut Dietmar Siemssen, dem Vorstandsvorsitzende von Gerresheimer liegt die Zukunft sowieso in so genannten Hybrid-Wannen, die man mit Strom und Wasserstoff beheizen kann. "In Belgien haben wir bereits eine Glaswanne, die mit 100 Prozent Strom betrieben wird", sagte Siemssen der Süddeutschen Zeitung. "Die erste Hybrid-Wanne haben wir in Tettau, die nächste folgt 2023 in Lohr."

Aber zugegeben: Allein eine elektrifizierte chemische Industrie würde wohl mehr Strom benötigen, als ganz Deutschland verbraucht. Ohne die Lösung grundsätzlicher Fragen, wie nach der Notwendigkeit all dieser Produkte, nach ihrer Kreislauffähigkeit und nach Substitutionen, wird es nicht gehen.

(jle)