Gegen Desinformation: Anzeigen sollen Ukraine-News nach Russland bringen​

Aktivisten in der Ukraine und in anderen Ländern nutzen jedes Mittel, um Russlands Desinformation etwas entgegenzusetzen.

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(Bild: sdecoret/Shutterstock.com)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Chris Stokel-Walker
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Zielgerichtete Werbung verfolgt uns überall im Internet und wirbt von Meme-T-Shirts bis hin zu Mahabis-Pantoffeln für alles Mögliche. Jetzt wird die Macht von Tracking-Pixeln und Pop-up-Werbung genutzt, um russischen Bürgern mitzuteilen, was während der Invasion in der Ukraine wirklich passiert.

"Wir haben gesehen, welch mächtige Rolle die Zivilgesellschaft spielen kann, wenn es darum geht, die Geschichte der Ukraine zu erzählen, für ihre Interessen einzutreten und internationale Unterstützung zu gewinnen", sagt Jack Pearson, ein Spezialist für außenpolitische Kommunikation, der zuvor für das britische Außenministerium gearbeitet und sich auf digitale Diplomatie spezialisiert hat. "Jetzt sehen wir Bemühungen von Gemeinschaften auf der ganzen Welt, die Informationsherrschaft des Kremls zu brechen, um die einfachen Russen zu erreichen."

Zuverlässige Nachrichten sind in Russland im Moment schwer zu bekommen. Staatliche Nachrichtensender erklären den Zuschauern, die Invasion sei eine Verteidigungsmaßnahme, während unabhängige russische Sender wie TV Rain auf Geheiß der Behörden geschlossen werden. Internationale Presseorganisationen wie die BBC und Voice of America wurden blockiert.

Um die Informationslücke zu schließen, nutzt eine kleine Gruppe von Aktivisten die Schlupflöcher in der russischen Firewall und versucht, ein Mindestmaß an Fakten in ein russisches Mediensystem zu bringen, das sich zunehmend von der Wahrheit entfernt.

So erhielten etwa die Nutzerinnen und Nutzer der App der russischen Apothekenkette Ozerki über Nacht am 28. Februar Push-Benachrichtigungen, die sie aufforderten, "aufzuwachen", weil Wladimir Putin versucht, das Leben russischer Soldaten und das Geld der russischen Bevölkerung zu stehlen, indem er seine Landsleute in den Krieg schickt. Die Kette erklärte später, sie sei gehackt geworden.

Digitale Aktivisten überschwemmen auch Yandex, das russische Pendant zu Google, mit gekaperten Bewertungen für wichtige Orte im Land, und verbreiten statt Lob und Tadel über regionale Besonderheiten die Wahrheit über Putins Einmarsch in der Ukraine. Eine in der Ukraine geborene und in den USA lebende Akademikerin hat Tausende ihrer russischen Kollegen per E-Mail darüber informiert, was in ihrem Heimatland unter den Händen ihrer Armee vor sich geht.

Die Berliner Webdesign-Agentur New Now hat ein Webskript auf GitHub zur Verfügung gestellt, das bei einem Zugriff von russischen IP-Adressen ein Pop-up-Fenster mit einer Mitteilung einblendet: Dass die russische Regierung sie anlügt und dass [in der Ukraine, Anm. d. Red.] unschuldige Menschen und Kinder getötet werden.

"Das Ganze ist vom Entwicklungsstandpunkt aus gesehen super einfach", sagt Kai Nicolaides von New Now, der das Webskript geschrieben hat. Er kam auf die Idee, als er die Datenverkehrsquellen auf den Webseiten seiner persönlichen Projekte sah. "Diese Projekte sind möglicherweise für russische Besucher nicht blockiert, weil sie vom Informationsstandpunkt aus gesehen nicht wichtig genug sind", sagt er. Und weiter: "Wir sind keine ausländische Nachrichtenquelle, es sind einfach nur Spaßprojekte".

Das Konzept bestand darin, diejenigen zu sensibilisieren, die keine Ahnung haben, was vor sich geht, und diejenigen, die es wissen, dazu zu bringen, etwas tiefer zu denken. "Wir dachten, dass die meisten Russen wissen, dass etwas faul ist, aber vielleicht gibt es ein paar, die einen Anstoß brauchen", sagt Nicolaides. "Wir dachten, wir könnten diese Graswurzelbewegung starten."

Zu den raffinierten Tricks, mit denen die russische Darstellung der Ukraine angekratzt werden soll, gehört auch das Schalten von Online-Anzeigen, die die Wahrheit über die Geschehnisse verbreiten. Der Londoner Marketing- und Kommunikationsprofi Rob Blackie finanziert per Crowdfunding gezielte Anzeigen, die russische Leserinnen und Leser zu unabhängigen russischsprachigen Nachrichtenquellen über den Ukraine-Konflikt leiten sollen. Blackie macht sich dabei die Tatsache zunutze, dass "das digitale Anzeigenland bis vor kurzem ein totaler Wilder Westen war".

Er testete diese Methode erstmals 2014, als Russland die Krim von der Ukraine eroberte. Blackie nutzte Location Targeting, um Anzeigen an die Bewohner von Sewastopol, der größten Stadt der Krim, zu senden und ihnen Nachrichten über die russische Invasion zu zeigen. Die Anzeige landete vor 1.000 Augenpaaren. Es war ein sehr kleines Experiment, aber es zeigte, dass Blackie in der Lage war, die russische Firewall für Fake News zu durchdringen.

Heute arbeitet er mit etwa 20 anderen Werbefachleuten im Vereinigten Königreich an einer größeren Kampagne, die am 27. Februar gestartet wurde. "Unser Grundkonzept besteht darin, Schlupflöcher im System zu finden, diese Anzeigen in Russland zu schalten und die Nutzer mit unabhängigen Nachrichten-Websites zu verbinden, die sie über die Ereignisse in der Ukraine informieren", erklärt er.

Das Team spielt Katz und Maus mit den digitalen Zensoren in Russland und den Plattformen, über die die Anzeigen geschaltet werden. Beide Parteien sind sehr wachsam, wenn es um Informationen geht, die sie einschränken wollen – in Russlands Fall sind es genaue Fakten über die Invasion und für die Plattformen ungenaue Pro-Russland-Narrative.

Eine Reihe von Anzeigen wurde über Nacht am 3. März verboten, so Blackie, der sich weigert, Informationen darüber preiszugeben, wo und wie das Team sie platziert. "Ich kann nur sagen, dass wir alles versuchen, was uns einfällt", sagt er. Blackie vergleicht das mit seiner täglichen Arbeit im Marketing für Biotech-Unternehmen. Eine Firma ließ eine positive Werbung für einen Durchbruch bei der COVID-19-Impfung mit einer übermäßig zensierenden Rasterfahndung zur Verhinderung von Anti-Impf-Werbung verbieten. "Aus Erfahrung wissen wir, dass es möglich ist, diese Regeln zu umgehen, wenn man entschlossen ist und es einem nichts ausmacht, gegen russisches Recht zu verstoßen", sagt er.

Die britische Werbekampagne schickt russische Empfänger zu "vier oder fünf" URLs unabhängiger Webseiten, die auf russischer Sprache über die Ukraine berichten. Diese wurden in der Hoffnung ausgewählt, dass sie die Leserinnen und Leser dazu ermutigen, Tag für Tag zurückzukehren und damit die offizielle Darstellung des Kremls untergraben können.

Soziale Medien sind allerdings nicht das einzige Forum für solche Aktivitäten. "In der modernen Welt gibt es viele Orte, an denen man Werbung machen kann, und wir probieren viele davon aus", sagt Blackie. Wenn er einen Weg fände, auf digitale Werbetafeln in der Moskauer Metro zuzugreifen, würde er versuchen, dort Informationen zu platzieren. "Wir haben eine Menge Experten, die mit ihren schlauen Köpfen versuchen, die Regeln zu umgehen."