Grünes Wachstum: Der Erde geht es immer schlechter

Es wird eng für die Menschheit. Die Widerstandskraft der Erde schwindet. Die Zeit, um gute Ideen zur Klimarettung umzusetzen, vergeht schnell.

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Die Erde vom Mond aus.

Die Erde vom Mond aus gesehen.

(Bild: Elena11/Shutterstock)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte am 11. Dezember 2019 voller Euphorie den europäischen Green Deal als neue Wachstumsstrategie der EU vor: Grünes Wirtschaftswachstum zur Rettung der Menschheit. Ein Kuhhandel, wie sich das Wort "Deal" auch übersetzen lässt, soll Klima- und Biodiversitätskrise lösen und trotzdem eine expandierende Wertschöpfung und zunehmenden Konsum unterstützen.

Auf den ersten Blick scheint das nicht einmal unmöglich zu sein. Immerhin gingen bei elf der wohlhabenden Staaten der Erde zwischen 2013 und 2019 die Kohlendioxidemissionen zurück, während ihr Bruttoinlandsprodukt gleichzeitig stieg. Diese Entkoppelung von Treibhausgasemissionen und Wirtschaftswachstum in Australien, Österreich, Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, den Niederlanden, Schweden und Großbritannien galt vielen als Beweis, dass grünes Wachstum möglich ist.

Um diese Behauptung zu untersuchen, verglichen die beiden Umweltökonomen Jefim Vogel von der Universität Leeds in England und Jason Hickel von der Universität Barcelona die Abnahme der Kohlenstoffemissionen in den reichen Ländern mit der im Pariser Abkommen geforderten Reduktionen. Die elf Staaten, in denen die Entkoppelung von Wachstum und Emissionen gelang, filterten die beiden Forscher aus dem Annex I des Pariser Abkommens heraus, der die 43 wohlhabenden Staaten der Welt auflistet.

Bei dieser Untersuchung stellte sich jedoch heraus, dass das Grün genannte Wachstum wohl eher "Greenwashing" sei, wie Vogel es ausdrückt. Mit ihren aktuellen Klimapolitiken würden diese Länder nämlich im Durchschnitt mehr als 200 Jahre brauchen, um ihre Emissionen wirklich auf nahe Null zu bringen.

Bis dahin würden sie mehr als das 27-Fache ihres gerechten Anteils am globalen Kohlenstoffbudget ausstoßen. "Keines dieser Länder hat Emissionssenkungen erreicht, die schnell genug sind, um mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit unter 1,5 Grad zu bleiben und dabei ein Minimum an Gerechtigkeit zu erreichen", schreiben die Autoren. Deutschland – genauso wie Belgien, Australien, Österreich und Kanada - müsste seine Emissionen 30-mal schneller reduzieren als zwischen 2013 und 2019, um Wirtschaftswachstum und Emissionen wirklich zu entkoppeln.

In ihrer Studie zogen Vogel und Hickel allerdings die verbrauchsbedingten Emissionen heran. Territoriale Emissionen, die üblicherweise im Mittelpunkt der Treibhausgasdebatten stehen, seien nämlich weniger geeignet, weil sie keine importierten Waren und Dienstleistungen berücksichtigen. Um dem Gerechtigkeitsgrundsatz des Pariser Klimaabkommens zu entsprechen, verteilten sie außerdem das verbleibende globale Kohlenstoffbudget der untersuchten Jahre entsprechend der Bevölkerungszahlen auf die Länder.

"Ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum in Ländern mit hohem Einkommen steht im Widerspruch zu dem doppelten Ziel, eine Klimakatastrophe abzuwenden und Fairnessprinzipien zu wahren, die die Entwicklungsaussichten in Ländern mit niedrigem Einkommen schützen", resümiert Vogel. Hickel ergänzt: "Das Streben nach Wirtschaftswachstum in Ländern mit hohem Einkommen macht es praktisch unmöglich, die geforderten Emissionsreduzierungen zu erreichen."

Angesichts ihrer Ergebnisse sind die beiden Wissenschaftler nur konsequent, wenn sie Politikern empfehlen, das Streben nach gesamtwirtschaftlichem Wachstum aufzugeben und stattdessen Postwachstumsansätze zu verfolgen, die auf Suffizienz, Gerechtigkeit und Wohlergehen ausgerichtet sind. Natürlich sei ein rascher Ausbau der erneuerbaren Energien und Effizienzsteigerungen nach wie vor unerlässlich, schreiben sie. Aber die gesamtwirtschaftliche Aktivität und die Gesamtenergienachfrage lasse sich nur verringern, wenn man die wirklich notwendigen Güter und Dienstleistungen vollständig dekarbonisiere, was sich auch direkt auf die Emissionen auswirke.

Um die Angst vor Wohlstandsverlusten zu nehmen, betont Vogel aber: "Die Abkehr vom Wirtschaftswachstum hin zum Postwachstum unterscheidet sich grundlegend von einer Rezession. Sie bringt keine Not oder den Verlust der Existenzgrundlage. Postwachstum kann den Lebensunterhalt und das Wohlergehen auch ohne Wirtschaftswachstum sichern und verbessern."

Wie dringend notwendig eine wirklich schnelle Umstellung der Wirtschaftsweise ist, zeigt auch die vor wenigen Tagen veröffentlichte aktuelle Beschreibung der planetaren Belastungsgrenzen. Danach schwindet nämlich die Widerstandsfähigkeit des Planeten rapide und damit der sichere Handlungsspielraum für die Menschheit, in der sich noch etwas ändern lässt.

Das Konzept stellte 2009 ein Team von Erdsystem- und Umweltwissenschaftlern unter Leitung von Johan Rockström vor, einem der heutigen Direktoren des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Die Einhaltung planetarer Grenzen ist inzwischen auch ein Ziel internationaler Klimapolitik.

Anders als Vogel und Hickel geben diese Autoren in ihrer Neubewertung den Politikern allerdings keine Ratschläge. Ihre Analyse ist zu offensichtlich: Sechs der planetaren Grenzen sind bereits überschritten: Globale Erwärmung, Biosphäre, Entwaldung, die Stickstoffkreisläufe, das Süßwasser und die sogenannten neuen Entitäten, zu denen chemische Schadstoffe und Plastik gehören. Nur beim stratosphärischen Ozon, bei den atmosphärischen Aerosolen und bei der Versauerung des Ozeans befindet sich die Erde demnach noch in einem sicheren Betriebsbereich.

"Wir wissen nicht, wie lange wir entscheidende Grenzen derart überschreiten können, bevor die Auswirkungen zu unumkehrbaren Veränderungen und Schäden führen", kommentiert Rockström das Ergebnis. "Wissenschaft und Gesellschaft sind äußerst besorgt über die zunehmenden Anzeichen, dass die Widerstandsfähigkeit des Planeten schwindet. Dies bringt mögliche Kipppunkte näher und verringert die Chance, die wir noch haben, die planetare Klimagrenze von 1,5 Grad einzuhalten."

(bsc)