Ideen gehören allen!

Seite 8: Ideen gehören allen!

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KREATIVER WIDERSTAND

Die USA beschimpfen sie als Piraten, und sie passen sich der Situation an -- nicht indem sie noch braver US-Produkte kaufen, sondern indem sie neue Wege finden, weiterhin schöpferisch zu bleiben, ohne fremde Rechte zu verletzen. "Wir hoffen", sagte der Leiter des Labors für freie Software, "dass nun alle ihre eigenen medialen Inhalte produzieren, sodass sie nicht mehr fernsehen müssen." Das ist zweifellos ziemlich ehrgeizig. Aber bevor man es als jugendlichen Idealismus abtut, sollte man bedenken: Hätte man Richard Stallman geglaubt, wenn man ihn 1984 getroffen hätte? Und er hatte damals nicht die Regierung des fünftgrößten Staates der Erde hinter sich.

Zwei Tage vor meinem Besuch des Labors für freie Software nahm ich an einer Kundgebung für freie Software im gleichen Jugendlager teil. Wirklich. Eine Kundgebung. Ich kam gemeinsam mit Minister Gil und John Perry Barlow. Hunderte waren in dem kleinen Zelt, viele Hunderte drängten sich draußen. Wir saßen vorn, die einzigen drei mit Stühlen. Der Abend begann mit einigen Vorträgen, dann folgte Musik.

WOODSTOCK MIT PINGUIN

Die Szene war höchst ungewöhnlich. Oder zumindest höchst ungewöhnlich für eine Kundgebung für freie Software. Ich habe Kundgebungen für freie Software in den USA gesehen. Dort tummeln sich Computerfreaks mit Pferdeschwänzen. Das hier war etwas anderes. Männer und Frauen waren im Zelt in gleicher Zahl vertreten, gutaussehend und erstaunlich beredt. Sie waren jung und sehr engagiert. Und sie sangen Software- Befreiungsslogans. Es war Woodstock ohne Schlamm und Schmutz und mit einem Pinguin in der Raummitte.

Als wir gingen, ging die Menge mit uns -- und fiel über Gil her. Teenagerinnen wollten Autogramme auf ihre Rücken. Männer und Frauen gaben ihm irgendetwas, um darauf zu unterschreiben. Immer wieder wurde er begrapscht. Wenn jemand anderer Meinung war, hielt Gil an und ließ sich auf Diskussionen ein. Er stritt, aber immer respektvoll. Schließlich wurden wir in einen Golfwagen verfrachtet, dann in ein Regierungsauto, sodass der Minister fliehen konnte. Aber selbst dann ließ er das Fenster herunter, wenn jemand dagegen klopfte, und diskutierte weiter. Er schrie seine letzten Worte, als sein Fahrer (ungeduldiger als Gil) aufs Gas stieg. Als das Fenster geschlossen war, versuchte ich Gil nach einem Moment des Schweigens zu erklären, wie außergewöhnlich diese Szene für amerikanische Augen war. Ich sagte, dass ich mir eine Entsprechung in den Vereinigten Staaten niemals vorstellen könnte, noch dazu mit jemandem in einer Machtposition. "Ja, ich weiß", sagte er lächelnd. "Amerika hat ,wichtige‘ Leute", erklärte er. "Hier sind wir bloß Bürger."

Diese "Bürger" bauen etwas auf. Wir werden es erst bemerken, wenn es groß genug ist, um von Amerika aus erkennbar zu sein. Aber wenn es erst einmal so groß ist, wird es unaufhaltsam sein. So wie die Software-Befreiungsbewegung eine Ökonomie der freien Software errichtet hat, werden die Brasilianer – und andere weltweit - dann eine Ökonomie der freien Kultur errichtet haben, die mit der proprietären Kultur konkurriert, sie vielleicht sogar verdrängt, aber in jedem Fall die derzeit dominierende proprietäre Kultur verändert.

Lawrence Lessig ist Juraprofessor an der Stanford Law School und Autor der Bücher "The Future of Ideas" und "Code and Other Laws of Cyberspace". Sein neuestes Buch "Free Culture" erschien gerade als Taschenbuch und kann auf www.free-culture.org kostenlos heruntergeladen werden.

(Entnommen aus Technology Review Nr. 7/2005; das Heft können Sie hier bestellen (wst)