Interview: "E-Patientenakte läutet Ende der Schweigepflicht ein"

Warum die elektronische Patientenakte einen Eingriff in die ärztliche Schweigepflicht darstellen könnte, erklärt Psychiater Andreas Meißner im Interview.

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Mann beim Arzt

(Bild: Image Point Fr/Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.
Inhaltsverzeichnis

In Zukunft sollen alle Menschen automatisch eine elektronische Patientenakte (ePA) erhalten. Wie genau das umgesetzt werden soll, darüber streiten Ärzte und Softwarehersteller noch. Denn die Ansprüche an die ePA sind für den verhältnismäßig kurzen Umsetzungszeitraum hoch. Für eine vernünftige Umsetzung braucht es mehr Zeit, doch Gesundheitsminister Karl Lauterbach will bei der "ePA für alle" Tempo machen. Der für Ärzte verpflichtende Start des E-Rezepts hatte bei den Beteiligten für viel Frust gesorgt, beim Klinik-Atlas wird die Kritik ebenfalls lauter.

Andreas Meißner befasst sich seit mehr als sechs Jahren intensiv mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens, insbesondere mit der Telematikinfrastruktur.

Die Daten aus der ePA stehen perspektivisch allen in "virtuellen Verarbeitungsräumen" beim Forschungsdatenzentrum Gesundheit zur Verfügung, die einen gut begründeten Forschungsantrag stellen. Ärzte werden demnächst verpflichtet, Behandlungsdaten zur Verfügung zu stellen. Einige von ihnen befürchten das Ende der ärztlichen Schweigepflicht. Einer von ihnen ist der Psychiater und Psychotherapeut Andreas Meißner, der sich auch in seinem kürzlich erschienenen Buch ("Die elektronische Patientenakte – vom Ende der Schweigepflicht") kritisch mit dem Thema auseinandersetzt. Wir sprachen mit ihm über mögliche Risiken der ePA.

heise online: Sie sind kein Freund der elektronischen Patientenakte. Warum ist das so?

Andreas Meißner: Mit der elektronischen Patientenakte beschäftige ich mich intensiv, seit die Anschlusspflicht an das Datennetz, die Telematikinfrastruktur, für uns niedergelassene Ärzte und Therapeuten gekommen ist, also seit rund sechs Jahren. Vor dem Bundestag habe ich 2020 eine Petition gegen den Anschlusszwang und die zentrale Speicherung der Patientendaten auf zentralen Servern vertreten. Eine weitere Petition zum Thema Opt-out habe ich im vergangenen Jahr begleitet. Die Verabschiedung der beiden eHealth-Gesetze Ende des Jahres, das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, haben mich dazu veranlasst, ein Buch zu schreiben.

"Die elektronische Patientenakte – vom Ende der Schweigepflicht" ist bewusst provokativ gewählt?

Ja, das ist sicher etwas zugespitzt. Trotzdem ist es so, dass die Versicherten es vielleicht versäumen, Widerspruch einzulegen. Wenn die Daten dann quasi unbemerkt in die Forschung oder gar in den europäischen Gesundheitsdatenraum fließen, ist das schon ein gewisser Eingriff in die ärztliche Schweigepflicht. Die Vision unseres noch amtierenden Bundesgesundheitsministers ist es zudem, die vertrauliche Arzt-Patienten-Kommunikation aufzuzeichnen und mittels KI live in strukturierte Daten umzuwandeln.

Also gehen Sie davon aus, dass die meisten Menschen von Ihrem Widerspruchsrecht keinen Gebrauch machen werden?

Ein Blick in andere Länder zeigt, dass zum Beispiel in Österreich oder Frankreich mehr Menschen über eine ePA verfügen. Das liegt nicht daran, dass plötzlich alle begeistert sind, sonst hätten sie die längst beantragen können. Es liegt einfach daran, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, dass sie eine ePA bekommen haben, oder es versäumt haben, Widerspruch einzulegen. Es gibt auch Leute, die die ePA gut finden, und das ist auch gut so. Sie hätten die ePA aber auch einfach beantragen können, ohne dass die Akte für alle auf Opt-out umgestellt worden wäre.

Gibt es bei der ePA ein Akzeptanzproblem?

Wenn es der Politik so wichtig gewesen wäre, dass die Bürger eine elektronische Patientenakte bekommen, hätte sie viel offensiver dafür werben müssen. Das hat sie in der ganzen Phase, in der es die ePA auf freiwilliger Basis gab, nicht getan. Die Bürgerinnen und Bürger wurden eigentlich überhaupt nicht mitgenommen. Das ist schon ein wichtiger Akzeptanzfaktor.

Ich glaube, dass viele Bürger den Bedarf gar nicht so sehen. Sie haben einen Hausarzt ihres Vertrauens, bei dem sie ihre Unterlagen gut aufgehoben wissen. Die Patienten haben ganz andere Probleme. Sie haben zum Teil lange Wartezeiten auf Termine. Sie haben Probleme, bestimmte Medikamente zu bekommen, weil sie nicht lieferbar sind. Wir haben inzwischen selbst in Großstädten Probleme, Kassensitze nachzubesetzen. Wir rutschen immer stärker in den demografischen Wandel rein; es kommt weniger Ärzte-Nachwuchs nach.

Außerdem sind die Arbeitsbedingungen für Ärzte nicht mehr so attraktiv, dass sich Kollegen niederlassen wollen. Wir haben ganz andere Probleme. Ich glaube nicht, dass uns die Digitalisierung hier wesentlich hilft. Sie hilft vielleicht mit Telemedizin auf dem flachen Land, wo es kaum Ärzte gibt. Aber auch da wird die Telemedizin an ihre Grenzen stoßen, weil es Dinge gibt, die mit Telemedizin einfach nicht funktionieren – etwa die körperliche Untersuchung. Auch bevorzugen manche Patienten den analogen Kontakt, was den Einsatz der Videosprechstunde im Einzelfall nicht ausschließt.

Was bedeuten die Digitalisierungsvorhaben für Ärzte?

Wir, die wir die ePA befüllen sollen, sind letztlich nicht mitgenommen worden. Es ist eine völlig neue Technik mit viel Zusatzmaterial notwendig, um die ePA zu betreiben. Das passt also nicht so gut in das bestehende System, was immer ein gewisser Akzeptanzvorteil wäre. Alles ist nicht einfacher, sondern komplizierter geworden. All das wird top down von oben implementiert, die Basis wird nicht mitgenommen dabei. Das fördert kein Vertrauen. Datenlecks und Cyberangriffe, die sich häufen, kommen dazu. Viele Kolleginnen und Kollegen klagen heute noch über verlängerte Prozesse, abstürzende Systeme, Störungen in der Telematik, in der Infrastruktur, beim E-Rezept, aber auch bei der Krankmeldung. Das alles hat die Akzeptanz nicht gefördert. Und all das hätte vermieden werden können.

Zu den Akzeptanzfaktoren von Innovationen gibt es eine umfangreiche Literatur. Ein gravierender Faktor ist auch, dass die ePA unter anderen Voraussetzungen startet als ursprünglich geplant. Es wurde immer die Freiwilligkeit betont, doch das ändert sich jetzt. Sobald ich etwas automatisch bekomme und mich aktiv darum bemühen muss, es wieder loszuwerden, hat das für mich nicht mehr viel mit Freiwilligkeit zu tun.

Für uns in den Praxen kommt auch noch die Befüllungspflicht hinzu und auch Pflichten im Kontext des europäischen Gesundheitsdatenraumes. Das alles war vor fünf Jahren überhaupt nicht absehbar.

Natürlich ist auch eine automatisierte Ausleitung von Daten aus dem Praxisverwaltungssystem in die elektronische Patientenakte geplant, mit dem Versprechen, das würde doch dann die Arbeit erleichtern. Im Endeffekt wird aber der automatische Datenfluss gefördert.

Es wird auch gesagt, dass es zur Bürgerpflicht gehört, eine ePA zu haben. Wie schätzen Sie das ein?

Wenn man ein Gesetz verabschiedet, mit dem alle Bürgerinnen und Bürger eine elektronische Patientenakte bekommen sollen, dann kommt das natürlich mit einem entsprechenden Narrativ: Die ePA ist doch eigentlich eine gute Sache und vielleicht sogar eine Bürgerpflicht. Seit Jahren wird immer wieder davon gesprochen, dass man seine Daten solidarisch spenden und damit der Gemeinschaft etwas zurückgeben soll, von der man auf der anderen Seite profitiert, weil man im Solidarsystem der gesetzlichen Krankenkassen ist. Ich halte es für äußerst fragwürdig, hier einen solchen Zusammenhang herzustellen, denn bei sensiblen Gesundheitsdaten sollte jeder frei entscheiden können und nicht unter Druck gesetzt werden, diese Daten preiszugeben.

Welche Sorgen bestehen konkret?

Eine Patientin hat mich schon gefragt, ob sie aus dem Kassensystem rausfliegt, wenn sie ihre Daten nicht zur Verfügung stellt. Wir kennen das aus der Autotelematik, wo günstigere Versicherungstarife winken, wenn man seine Daten über das Fahrverhalten zur Verfügung stellt.

Ich befürchte, dass so etwas früher oder später auch im Krankenversicherungssystem kommen könnte. Das wäre einfach eine Ungleichbehandlung, die nicht gerechtfertigt ist. Es sollte keine finanziellen Anreize geben, aber auch keinen moralischen Druck, seine Daten preiszugeben. Es gibt einfach oft gute Gründe dafür, und sehr oft nicht nur im psychischen Bereich, sondern auch bei körperlichen Erkrankungen.

Viele Bürger haben kein Problem damit, ihre Daten für Forschungsprojekte zur Verfügung zu stellen. Es ergibt aber auch keinen Sinn, alle möglichen Daten zu sammeln. Natürlich ist es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, in einem großen Datenhaufen die berühmte Nadel zu finden, aber es besteht generell auch die Gefahr falscher Korrelationen. Ein großer Vertreter der evidenzbasierten Medizin, Prof. Dr. med. Jürgen Windeler, ehemaliger Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, hat sich dazu sehr präzise und pointiert geäußert. Er hat davon gesprochen, dass wir einen entsprechenden Hype um Big Data haben.

Das schließt einzelne Forschungsziele überhaupt nicht aus. Aber die Überbewertung ist problematisch und bringt die Gefahr mit sich, dass wir die klassischen, aufwendigen Forschungsansätze vernachlässigen, die einfach teurer sind. Es müssen Probanden gesucht werden, die Teilnehmer müssen über mehrere Jahre regelmäßig kontaktiert werden und so weiter. Das fällt alles nicht weg, nur weil wir einen Algorithmus auf die Daten loslassen. Abrechnungsdaten und Daten aus der elektronischen Patientenakte sind einfach zu schlecht für die Forschung. Im Zweifel ist dieser neue explorative Forschungsansatz nach dem Motto "Wir lassen einfach die KI Wissenschaft machen" sogar eine Gefahr für das Patientenwohl.

Es wird sich zeigen, wie transparent die Forschung dann mit den ePA-Daten umgeht. Der Zugang soll, auch nach dem Entwurf des Medizinforschungsgesetzes, möglichst niederschwellig sein. Hauptsache, es geht irgendwie um ein Gesundheitsprojekt. Das können dann letztlich auch große Konzerne wie Amazon oder Google und Co. sein, die dann Anträge stellen.

Wir schaffen eine immer größere Komplexität, die zu technischen Problemen führt, die enorme Ressourcen an IT-Fachkräften, Zeit, Energie und letztlich auch Material wie Hardware erfordern. Auch der Energieverbrauch wird durch all die KI-Tools massiv ansteigen. Angesichts des Fachkräftemangels, auch im IT-Bereich, werden die Ressourcen eigentlich woanders gebraucht. Man macht es einfach unnötig kompliziert. Hier den Überblick zu behalten, ist für mich schon sehr schwierig. Das macht die Sache auch intransparent und schwer durchschaubar. Deshalb gibt es auch kaum einen öffentlichen Diskurs darüber, dass gerade ein sehr großes, einschneidendes IT-Projekt eingeführt wird. Eine Talkshow zur ePA hat es bis heute nicht gegeben, weil man genau weiß, dass sich das keiner anschauen will.

Es kommt immer wieder die Aussagen, dass ohnehin jeder bei Google nach seinen Krankheiten sucht und Google die Daten ohnehin schon hat. Was würden Sie dem entgegensetzen?

Es liegt im Ermessen jedes Einzelnen, wie bewusst oder leichtsinnig er mit seinen Daten umgeht. Grundsätzlich steht es jedem frei, Google oder eine andere Suchmaschine zu benutzen. Viele tun das auch aus Bequemlichkeit, weil es vielleicht besser, schnell und praktisch ist. Aber dabei werden natürlich viele Daten abgesaugt. Ich finde aber, dass der Staat nicht selbst zu so einer Datenkrake werden sollte. Niemand sollte sich die großen Tech-Unternehmen zum Vorbild nehmen. Die Bürgerinnen und Bürger sollten sich natürlich schon bewusst sein, dass es sich hier um sehr sensible Daten handelt, die dann für eine umfassende Profilbildung genutzt werden.

Die Daten sollen ja jetzt nicht nur 30 Jahre, sondern 100 Jahre gespeichert werden, das betrifft also auch die nachfolgenden Generationen der Patienten beziehungsweise betrifft die Patienten auch, wenn sie gar nicht mehr am Leben sind. Kann die Datensicherheit hier überhaupt mithalten, wenn man an die Entwicklung von Quantencomputern und künstlicher Intelligenz denkt? Dann kommt jetzt der europäische Gesundheitsdatenraum. Auch da sollen die ePA-Daten genutzt werden. Die Entwicklung wird überall nicht aufhören.

Im Mai ist das Buch "Die elektronische Patientenakte - Das Ende der Schweigepflicht" von Andreas Meißner im Westend Verlag erschienen.

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(mack)