Interview zu KI im Gesundheitswesen: "Wir sind zum Fortschritt verdammt"

Menschen müssen über die Möglichkeiten des Fortschritts im Medizinbereich aufgeklärt werden. Dafür plädiert der Ethiker Walter Swoboda.

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Zwei Finger von zwei verschiedenen Händen berühren sich. Links die Hand ist menschlich, die rechte Hand künstlich.

Forscher setzen große Hoffnung in digitale Zwillinge.

(Bild: Ole.CNX/Shutterstock.com, bearbeitet durch heise online)

Lesezeit: 16 Min.
Inhaltsverzeichnis

Ein Forscherteam aus Heidelberg und Galway hat digitale Zwillinge für Säuglinge entwickelt: virtuelle Modelle, die die verschiedenen physiologischen und metabolischen Prozesse eines Säuglings simulieren, um deren Entwicklung und Gesundheit besser zu verstehen und vorherzusagen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift "Cell Metabolism" veröffentlicht.

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(Bild: 

Vasin Lee/Shutterstock.com

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Der zunehmende Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin ist nicht neu, aufgrund der sich rasant entwickelnden generativen Sprachmodelle und der für die EU kommenden EU-Verordnung und weiteren Gesetzen erfährt das Thema jedoch eine neue Relevanz.

Walter Swoboda ist Experte in der digitalen Gesundheitsversorgung und für Ethik im Gesundheitswesen und unterstützt auch den Gemeinsamen Bundesausschuss in Fragen zur Weiterentwicklung der Versorgungsforschung. Vor kurzem ist zudem sein Buch "KI in Gesundheit und Pflege – Chancen, Risikien, Ethik" im UVK Verlag erschienen.

(Bild: Hochschule Neu-Ulm)

Die Forschung hofft mithilfe digitaler Zwillinge, Krankheiten frühzeitig zu erkennen. Doch das ist nicht die einzige Hoffnung, die mit der Zukunft der Medizin verbunden ist. Eine weitere Vision ist, in ferner Zukunft auch Gehirne nachbauen zu können. In seinem Buch "KI in Gesundheit und Pflege – Chancen, Risiken und Ethik" gibt Prof. Walter Swoboda einen Einblick in diese Vorhaben. Der Informatiker und Arzt ist Forschungsprofessor an der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm, Leiter des dortigen Instituts DigiHealth und Vorsitzender der gemeinsamen Ethikkommission der bayerischen Hochschulen (GEHBa). Wir haben mit ihm über die Chancen und die ethischen Herausforderungen des medizinischen Fortschritts gesprochen.

heise online: Wie schätzen Sie die kürzlich erschienene Studie von Wissenschaftlern der Universität Heidelberg und Galway ein, bei der es um einen digitalen Zwilling geht, der den kindlichen Stoffwechsel im ersten halben Lebensjahr simuliert?

Walter Swoboda: Das hat mich schon fasziniert. Mit einem digitalen Netzwerk wird der Metabolismus des Menschen so simuliert, dass man damit auch mehr oder weniger Versuche einstellen könnte. Die Studie ist aber eher rudimentär, beispielsweise ist die Gruppe der Versuchspersonen sehr begrenzt.

Die Medizin ist immer datengetrieben, eigentlich seit Jahrzehnten. Als ich vor einigen Jahren als Arzt auf einer Intensivstation gearbeitet habe, wurde die Visite für lebertransplantierte Patienten am Computer gemacht. Die Werte sind wichtiger als der Patient selbst – das hört sich komisch an, aber das ist so die Realität in der Medizin. Je weiter wir vorwärtskommen, umso wichtiger sind die Daten für die Ärzte und umso weniger wichtig wird eigentlich der direkte Patientenkontakt. Das hört sich furchtbar an, ist aber der Tatsache geschuldet, dass die Laborwerte und ähnliches immer entscheidender werden.

Mit einem digitalen Zwilling lassen sich Dinge machen, die in der experimentellen Medizin nicht möglich sind. Die Medizin ist so gesehen schwierig, weil Experimente eigentlich nicht erlaubt sind. Das heißt, wir haben entweder die statistischen Methoden, die unzuverlässig sind, weil die Menschen unterschiedlich sind, oder wir haben die Tiermodelle. Und die Tiermodelle sind natürlich erstens nicht schön, auch nicht für die Forscher. Und zweitens gibt es Krankheiten, die sich am Tiermodell gar nicht gut simulieren lassen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Bei einer Krankheit wie Rheuma haben Sie Probleme, weil Sie die Krankheit bei dem Tier künstlich hervorrufen müssen. Das ist dann auch künstlich. Also eine Laborratte mit Rheuma hat ein genetisch hervorgerufenes Rheuma, das nicht unbedingt etwas mit dem Rheuma zu tun hat, das Menschen haben. Wenn das künstliche hervorgerufene Rheuma bei der Ratte behandelt werden kann, heißt das nicht automatisch, dass das auch für das Rheuma beim Menschen so ist. Das gilt noch viel mehr bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen, die höhere Gehirnfunktionen betreffen. Hier gibt es einfach keine passenden Tiermodelle. Daher glaube ich, dass diese Digitalmodelle künftig ziemlich viel bringen können.

Damals, als Dmitri Iwanowitsch Mendelejew das Periodensystem der Elemente entdeckt hatte, war das in der Chemie ein riesiger Fortschritt, weil die Chemiker plötzlich ein Modell vor sich hatten und die weißen Felder sahen. Sie sahen also Lücken im System und konnten dann gezielt nach den noch fehlenden Elementen suchen. Helium war damals zum Beispiel nicht entdeckt, aber da hat jemand gesehen: "Hier gibt es eine Lücke" und dann gezielt nach dem Element gesucht. Für die einzelnen Elemente gab es einen Haufen Nobelpreise in den nächsten 20, 30 Jahren.

Genauso ist es mit dem digitalen Modell. Die Autoren der Studie haben das sehr schön simuliert und festgestellt, dass es für manche Dinge sogenannte Marker gibt. Unter anderen Entwicklungen haben sie gesehen, da müsste es eigentlich einen Marker geben, aber da gibt es noch keinen. Das heißt, dieses Modell könnte unter Umständen eine ähnliche Wirkung auf die Medizin haben wie damals das Periodensystem auf die Chemie. Man sieht plötzlich: "Hoppla, hier müsste es noch etwas geben, es ist aber bisher nicht entdeckt", und da kann man gezielt danach suchen. Das finde ich sehr interessant.

Swoboda: Der Nachteil ist, dass die Möglichkeiten der Forschergruppe beschränkt ist. Galway ist nicht die größte Stadt in Irland, und das Modell ist von der Rechenkapazität her stark eingeschränkt. Das ist einer der größten Nachteile der KI aus meiner Sicht. Sie benötigen Mittel, die den öffentlichen Dienst überfordern würden. Hier müssen Milliarden in die Hardware investiert werden, was das Geschäft von Apple, Google und anderen ist. Das ist für die Informatik schlecht, weil der öffentlich finanzierte wissenschaftliche Bereich ins Hintertreffen gerät. Es ist ein schöner Anfang, aber es gibt noch viel Forschungsbedarf. Sie haben es gut beschrieben, aber das Modell ist hinsichtlich der Ressourcen unzureichend.

Wie ist Ihre ethische Sicht darauf?

Swoboda: Es hat sogar zwei ethische Facetten. Seit ungefähr 30 Jahren können Sie im Computer einfache Lebewesen simulieren. Die digitalen Kopien verhalten sich dann so wie die biologischen Vertreter. In einem meiner Bücher habe ich das Beispiel von einer Meeresschnecke angeführt. Die Frage ist: Wie unterscheidet sich diese Meeresschnecke im Computer von der realen Meeresschnecke? Einen Unterschied gibt es da eigentlich nicht. Das heißt, wenn ich den Computer ausschalte, dann habe ich theoretisch die Meeresschnecke umgebracht. Das ist zu verkraften, denn es ist ja "nur" eine Meeresschnecke, aber zeigt das das ethische Problem. Je perfekter die digitale Kopie wird, umso mehr kommen da die Schwierigkeiten, dass die Kopie unter Umständen vielleicht in einer ferneren Zukunft sogar intelligent ist. Darf man das Modell dann einfach abschalten?

Das andere Problem besteht aus Patientensicht: Wie weit darf denn die digitale Kopie gehen? Mal angenommen, ich habe da eine digitale Kopie von mir und die sagt mir: "Du stirbst in zehn Jahren an einem Hirntumor und Du kannst nichts dagegen tun". Ist es ethisch überhaupt zu rechtfertigen, so etwas zu kommunizieren? Schließlich ist kein Modell perfekt. Durch dieses Wissen hätten Sie persönlich jedoch auch praktische Nachteile. Sie würden beispielsweise keine Lebensversicherung mehr erhalten, wenn das bekannt wird.

Lässt sich eine solche Prognose nicht auch durch eine Veränderung des Lebensstils beeinflussen?

Swoboda: Die Meinungen gehen da auseinander. Ich glaube, dass in den Genen mehr verankert ist, als wir denken. Es gibt etwa Studien über Zwillinge, wo einer säuft und raucht und sich nicht bewegt und der andere ist sportlich und lebt gesund. Und dann stellt man plötzlich fest, dem einen geht es 20 Jahre schlecht, aber er lebt fast genauso lang wie der andere. Es kann also sein, dass diese Lebenserwartung genetisch festgelegt ist. Der Einfluss der Epigenetik ist durchaus umstritten.