Kanada: Indigene kaufen Netzbetreiber für elffache Fläche Deutschlands

Bell Canada verkauft sein Festnetz im Norden des Landes an Ureinwohner. Northwestel wird der weltweit größte Netzbetreiber im Eigentum Indigener.​

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Hozhaus; Arbeiter steht auf hoher Leiter und spannt ein Kabel zum Dach des Gebäudes, im Hintergrund Berge

FTTH (Fibre to the Holzhaus); die Aufnahme der Verlegearbeiten Northwestels im dünn besiedelten Yukon ist vom August 2022. Beleuchtet wurde das Kabel erst im Mai 2024.

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Lesezeit: 10 Min.
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Der Telecomkonzern Bell Canada verkauft seine Tochter Northwestel um ungefähr eine Milliarde kanadische Dollar (rund 680 Millionen Euro) an ein Konsortium aus Ureinwohnervölkern. Es handelt sich also um eine Art Verstaatlichung durch dutzende Völker. Das Unternehmen versorgt die drei Territorien Kanadas sowie den Norden der Pazifikprovinz Britisch-Kolumbien und einen Teil des Nordens Albertas mit ortsgebundenem Internetzugang, Festnetztelefonie und teilweise Kabelfernsehen, außerdem vertreibt es Satellitenanbindungen über Oneweb. Laut den neuen Eigentümern wird Northwestel (NWTel) damit zum weltweit größten Netzbetreiber im Eigentum Indigener - das stimmt zumindest bezogen auf die zu versorgende Fläche.

Denn das Versorgungsgebiet ist riesig: Rund vier Millionen Quadratkilometer sind mehr als die elffache Fläche Deutschlands. Dafür ist das Gebiet sehr dünn besiedelt. In den drei Territorien Kanadas (Nunavut im Osten, Nordwest-Territorien im Zentrum und Yukon im Westen) leben insgesamt nur rund 125.000 Menschen. Hinzu kommen weniger als zehntausend Einwohner im Norden Britisch-Kolumbiens und Albertas. Die Betriebsbedingungen sind extrem, mit sehr kalten, langen Wintern, Waldbränden im Sommer, Permafrostboden, enormen Entfernungen und generell bescheiden ausgebauter Infrastruktur. Fast die Hälfte der knapp hundert angeschlossenen Siedlungen ist nicht durchgehend auf dem Landweg erreichbar. Entsprechend hoch sind die Kosten für Netzerrichtung und -betrieb.

NWTel betreibt die jeweils einzige Glasfaser-Verbindung, die die zentral gelegenen Nordwest-Territorien und das westlich gelegenen Yukon-Territorium mit der Außenwelt verbinden. Das Nunavut-Territorium im Osten hat bislang keinen Anschluss an Glasfaser und ist auf Satelliten angewiesen. Auch in den beiden anderen Territorien gibt es Siedlungen, die die Glasfaser nicht erreicht. Bis zum Markteintritt des Satellitendienstes Starlink Ende 2022 hatte NWTel im Großteil seines Gebietes kaum nennenswerte Konkurrenz. Im östlich gelegenen Territorium Nunavut sowie in Teilen der Nordwest-Territorien gibt es mit SSi Canada zwar einen drahtlosen Mitbewerber, der aber ebenfalls auf den Northwestel-Backbone angewiesen ist und seit jeher über Apothekerpreise für dessen Nutzung klagt.

Für die Ureinwohner ist der Kauf sowohl eine wirtschaftliche als auch eine strategische Entscheidung: "Als indigene Völker waren wir schon lange der Auffassung, dass wir die Besten sind, um notwendige Entscheidungen zu treffen, die Dienstleistungen in unseren Siedlungen betreffen", sagte Tiffany Eckert-Maret, eine für die beteiligten Völker des Yukon tätige Managerin, "Der Kauf Northwestels wird uns die Autonomie geben, in Zukunft diese Investitionen und Entscheidungen zu treffen, um unsere Telecom-Berdürfnisse zu erfüllen." Trotz alledem erwarten die Ureinwohnerregierungen laufende Gewinne: "Der Kauf (NWTels wird Indigenen) Zugang zu langfristig stabilem Cashflow gewähren, den sie in wichtige Infrastruktur wie Wohnraum, Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung und Bildungsprogramme" reinvestieren können, steht in der Pressemitteilung zu lesen.

Nur teilweise ist geklärt, wie sich das neue Eigentümerkonsortium zusammensetzen wird. Die neu gegründete Holding heißt Sixty North Unity – ein Bezug auf den sechzigsten Breitengrad, der die Grenze zwischen Kanadas Territorien und Provinzen bildet. Bislang sind drei Eigentümergruppen Sixty North Unitys bekannt: Aus dem Yukon sind 13 der 14 Ureinwohnervölker mit dabei, in den Nordwest-Territorien der Großteil der First Nations (im US-Englisch Indians genannt), offenbar aber keine Inuit (US-Englisch: Eskimos) oder Métis. In Nunavut ist eine Organisation Teilhaber, die den Inuit-Regierungen in Kitikmeot, einer von drei Regionen des Territoriums, repräsentiert. Eingeladen sind auch die übrigen Ureinwohner im Norden Kanadas, teilweise sollen bereits Gespräche stattfinden.

Auch sonst lässt die Ankündigung des Verkaufs viele Fragen offen. Auch auf Nachfrage heise onlines bei allen Beteiligten war beispielsweise nicht zu erfahren, welche Teile der Infrastruktur bei dem Verkauf an die Ureinwohner gehen, und was bei Bell bleibt und fortan an Northwestel vermietet wird. Bells nördliches Mobilfunknetz und -frequenzrechte bleiben sicher bei Bell; aber wer den Glasfaser-Backbone und Satellitenbodenstationen erhält, ist unbekannt. Gleiches gilt für den Verbleib der Markenrechte sowie des Eigentumanteils am noch immer in Bau befindlichen Canada North Fibre Loop, der ersten Glasfaser in Permafrost.

Keine Auskunft gibt es außerdem zu etwaigen Übernahmen von Schulden oder andere Verbindlichkeiten, beispielsweise Pensionsansprüchen. Die wettbewerbsrechtliche Genehmigung stehen noch aus; doch da Northwestel schon jetzt keine nennenswerten Konkurrenz hat, dürfte die Wettbewerbsbehörde keine Steine in den Weg legen. Das Closing ist für das vierte Quartal geplant. Das gegenwärtige Northwestel-Management soll auch danach im Amt bleiben.

NWTel ist kein Mobilfunkanbieter; das Geschäft mit Kabelfernsehen schrumpft, und – wie aus Preisregulierungsverfahren hervorgeht – ist die Festnetztelefonie seit langem defizitär. In den Dörfern läuft Internet entweder über Satelliten, die NWTel nicht selbst betreibt sondern nur vermarktet, oder über alte DSL-Einrichtungen, die auch Verluste schreiben. Manche Siedlungen haben inzwischen auch Glasfaser.

Für die Dörfer des Yukon hat NWTel dutzende Millionen Dollar Subventionen erhalten, mit denen es Glasfaser zu den einzelnen Häusern gebracht hat. Die letzten Meilen dieses Glasfasernetzes im Yukon hat NWTel bereits vor zwei Jahren an die 13 Ureinwohnervölker verkauft und umgehend exklusiv zurückgemietet. Dieses Tafelsilber ist also schon verkauft. Jedenfalls dürfte die Glasfaser günstiger zu betreiben sein als DSL, zumindest gemessen pro übertragenem Gigabyte; aufgrund der Ringstruktur der Kupferkabel kann NWTel die DSLAMs aber nicht abschalten, solange auch nur ein Kunde am jeweiligen Ring noch DSL nutzt. Der Umstieg wird Jahre dauern.

Gewachsen ist das Unternehmen zuletzt nur bei Internetanschlüssen, weil die Bevölkerung der Region stark zugenommen hat. Den Yukon ausgenommen ist das Bevölkerungswachstum im Servicegebiet allerdings jüngst zum Erliegen gekommen. Kein Wunder; zwar gibt es zahlreiche unbesetzte und gut bezahlte Arbeitsplätze, doch herrscht im Norden Kanadas großer Mangel an Wohnraum, der vom Mangel an Gewerbeimmobilien noch übertroffen wird. Und seit eineinhalb Jahren wildert Starlink im NWTel-Revier. Starlink hat nicht nur seltener Totalausfälle aufgrund von Kabelbrüchen, auch die monatliche Gebühr lag bis vor kurzem unter der günstigsten Internet-Flatrate NWTels (die nur über Kabel und Glasfaser verfügbar ist, nicht über DSL, wo zusätzliche Datenmengen ordentlich ins Geld gehen).

Erst vor einigen Tagen hat NWTel eine Flatratetarif eingeführt (50/10 Mbit/s über Kabel, 50/50 Mbit/s über Glasfaser), dessen monatlicher Tarif leicht unter dem Starlink-Preis liegt. Ob das reicht, den Verlust an Marktanteilen zu bremsen, bleibt abzuwarten.