Kenias Handy-Ambulanz

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Manche der Projekte hatten spürbare Erfolge; die meisten aber sind zeitlich und vom Umfang her begrenzt, zudem haben sie oft kein Geschäftsmodell für die weitere Finanzierung nach der Pilotphase. Dadurch leidet das Feld unter schwerer "Pilotitis", wie es Patricia Mechael, Geschäftsführerin der mHealth Alliance, formuliert: "Der ganze Bereich ist ungeheuer fragmentiert, leider. Es kommen alle möglichen kleinen Teilchen aus allen möglichen Ecken, und es laufen sehr viele Pilotprojekte, die sich dann doch nicht etablieren."

Verträge für Regierungs-Webseiten, elektronische Register oder ähnlich große IT-Vorhaben werden meist von NGOs oder Spendern konzipiert und dann von weit entfernten Firmen umgesetzt. Das sei zwar schön und gut, sagt Jackson Hungu, Kenia-Direktor bei der CHAI, habe aber mit dem Bedarf vor Ort oft wenig zu tun. "Haben wir einen Apotheker befragt und wirklich verstanden, wie der die Dinge sieht?", fragt Hungu. "Oder bauen wir einfach irgendetwas, damit der Spender sagen kann ,Oh, wir sind online?'" Für eine erfolgreiche nationale Technologiestrategie, sagt Hungu, brauche es Leute wie die Strathmore-Studenten – denn die könnten nicht nur programmieren, sondern auch gut mit den Anwendern zusammenarbeiten. Und sie würden wahrscheinlich in Kenia bleiben, um dauerhaft Unterstützung zu leisten.

In der Shopping-Mall "Prestige Plaza" in Nairobi dürften sich Besucher aus reichen Ländern wie zu Hause fühlen. Aber nur eine Kreuzung entfernt führt eine holprige Schotterstraße mitten in einen der größten Slums von ganz Afrika: Kibera mit 170000 Bewohnern. Überall werden hier Kohl, Erdnüsse, Zuckerrohr, Kräuter und SIM-Karten verkauft. Der Boden besteht aus festgetretener Erde, Steinen und Abfall. Verrostete Wellblechdächer sollen den Regen abhalten. Bei den hübscheren Hütten wehen Vorhänge in den Fensteröffnungen. Aber der Geruch von Rauch und Fäkalien ist allgegenwärtig, und die Kinder spielen nahe an stinkenden Rinnsalen voller Plastikmüll. Wenn es regnet, wird der Fluss am unteren Ende des Slums zum Abwasserkanal. Es überrascht nicht, dass Kibera eine Brutstätte für Infektionskrankheiten wie HIV oder Tuberkulose ist.

Zuhura Hussein wurde vor 38 Jahren hier geboren, sie hat drei Kinder und einen Enkel. Als eine von 140 öffentlichen Gesundheitshelfern betreut sie die Menschen im Slum. Sie ermuntert die Bewohner von Kibera, sich medizinisch durch- checken oder impfen zu lassen; Patienten mit HIV oder Tuberkulose drängt sie, regelmäßig ihre Medikamente zu nehmen. Menschen wie sie sind entscheidend für den Erfolg vieler globaler Gesundheitsinitiativen.

Hussein zwängt sich in eine von Kiberas vollgestopften Behausungen. In der Dunkelheit ist ihre HIV-positive Patientin auf dem Bett kaum zu erkennen. Die magere Frau zählt 48 Jahre, sieht aber mit ihrer ledrigen Haut aus wie 75. Seit einiger Zeit leidet sie an schwerer Tuberkulose. "Ich brauche einfach nur Essen", sagt sie. Mitten in dieser trüben Szene klingelt ein Handy. Hussein greift in ihr Kleid und zieht ein altes Nokia 6070 hervor. Dessen Telefonbuch enthält 300 Namen, von Abdala bis Zubeda. Viele von ihnen, sagt Hussein, habe sie als Patienten betreut.

Selbst einfache Telefone wie das von Hussein haben enormes Potenzial, Gesundheitsdienste zu verbessern. Das hat eine Studie von Richard Lester gezeigt, ein kanadischer Spezialist für Infektionskrankheiten. Als er vor fünf Jahren im Rahmen eines Forschungsstipendiums nach Kenia kam, bauten er und sein Team Verbindungen zu HIV-positiven Patienten in drei Gesundheitszentren auf.

Jede Woche fragte er die Betroffenen per SMS, ob sie Hilfe mit ihren Medikamenten bräuchten. Als er 500 Teilnehmer gewonnen hatte, machte Lester daraus eine klinische Studie. Die Ergebnisse wurden 2010 veröffentlicht: Von den Patienten, die SMS-Erinnerungen bekommen hatten, nahm ein größerer Anteil die antiviralen Medikamente regelmäßig ein; und tatsächlich ließ sich das Aidsvirus bei 57 Prozent von ihnen unterdrücken, während es in der Kontrollgruppe nur 48 Prozent waren. Würde das System auf alle 410000 Kenianer mit antiviraler Medikation ausgeweitet, schätzt Lester, könnten die HI-Viren bei 36000 zusätzlichen Menschen in Schach gehalten werden. Weil dadurch der Ausbruch von Aids verhindert oder der Einsatz teurerer Medikamente überflüssig wird, ließen sich so 17,4 Millionen Dollar sparen.

Ähnliche Erkenntnisse liefert auch AMPATH, ein gemeinsames Forschungsprojekt der Indiana University School of Medicine und der kenianischen Moi University, bei dem 130000 HIV-Patienten mithilfe elektronischer Krankenakten und einer automatischen Erinnerungsfunktion auf Android-Telefonen betreut werden. Die Plattform ist quelloffen, wurde am Regenstrief Institute in Indiana entwickelt und nennt sich OpenMRS. Helfer in 55 Praxen können nun einfach nachsehen, welche Tests oder Medikamente ein Patient benötigt. Dadurch nahm der Anteil von HIV- positiven Müttern, die ihre Infektion an ihre Babys weitergaben, auf unter drei Prozent ab – wohl weil die Schwangeren regelmäßig antivirale Medikamente bekamen. "Erinnerungssysteme sind ein extrem wichtiges Mittel, die Pflege zu verbessern", sagt Paul Biondich, einer der OpenMRS-Entwickler.

Allerdings erreichen solche Bemühungen bislang nur einen kleinen Anteil der Hilfsbedürftigen – und sind oft vom finanziellen Aus bedroht. So war es auch bei Richard Lester: Als 2009 seine durch das US-Programm "President's Plan for AIDS Relief" bewilligte Förderung in Höhe von 719000 Dollar verbraucht war, stellten zwei der drei betreuten Standorte den SMS-Versand ein. Jetzt ist Lester zurück an seinem Schreibtisch an der University of British Columbia und macht das, was fast alle machen, die sich um das Gesundheitswesen in Afrika bemühen: Er sucht nach neuen Fördermitteln. Es sei sehr frustrierend zu versuchen, von den Forschungsergebnissen zu einer Programmförderung zu kommen. "Ich finde, es gibt eine moralische Verpflichtung, einen Dienst dauerhaft anzubieten, wenn er sich in einer klinischen Studie als wirksam erwiesen hat."

Auch bei Zuhura Hussein ist noch nichts von der neuen Technologie angekommen. Dabei würde man dies bei ihr, als Gesundheitshelferin mitten in Nairobi, noch am ehesten erwarten. Sie nutzt ihr Nokia aber lediglich, um Patienten anzurufen. Wenn es in einen der vielen Gräben von Kibera fällt, könnte der Kontakt zu Dutzenden Patienten unwiderruflich verloren gehen.

Fährt man über den holprigen Weg wieder aus Kibera heraus, kommt bald ein fünfstöckiges Bürogebäude in Sicht. Von seiner Dachterrasse aus lässt sich der Dunst aus Dieselabgasen und offenen Feuern über Kibera erkennen. Innen aber glaubt der Besucher, er sei in den Büroräumen eines Start-ups im Silicon Valley gelandet. Dutzende junger Menschen in den Zwanzigern hacken auf Laptops ein, ein paar reagieren sich beim Tischfußball ab; in einer Kaffeebar gibt es Cappuccino, Milchshakes und Bananenbrot.