Kenias Handy-Ambulanz
Das Büro gehört zu einem Inkubator namens iHub, sichtbarstes Zeichen einer lokalen Technikkultur, die im Dezember 2007 in Schwung kam. Damals sind nach umstrittenen Wahlen ethnische Unruhen ausgebrochen, bei denen mindestens 1100 Menschen starben und 300000 vertrieben wurden. Die Menschenrechtsaktivistin Ory Okolloh rief die verstreute Blogger- und Technologieszene des Landes auf, sich an der Berichterstattung über die Gewalt in den Straßen zu beteiligen. Einige folgten der Aufforderung, darunter Erik Hersman und David Kobia. Kobia programmierte innerhalb von 48 Stunden die erste Version einer Online-Plattform namens Ushahidi (Swahili für "Zeugenaussage"). Dort können Nutzer per SMS Zwischenfälle melden, die dann geprüft und auf einer Online-Karte veröffentlicht werden (siehe TR 8/2008, S. 67). Ushahidi wird seit dieser Zeit intensiv genutzt, unter anderem auch in Haiti, Südafrika, Russland und den USA – wo es geholfen hat, Überflutungsprobleme am Missouri darzustellen.
Dass es heute in Nairobi den iHub gibt, ist die Folge enttäuschender Erfahrungen der freiwilligen Helfer in den frühen Tagen von Ushahidi. Sie boten die Technologie kostenlos dem kenianischen Roten Kreuz und anderen NGOs an, aber die lehnten ab – es passte nicht in ihre bestehenden Konzepte. "Es gab so viel Widerstand", erinnert sich Hersman. "Wir haben immer wieder gesagt: ,Es ist kostenlos, und wir helfen euch.' Aber sie waren nicht bereit, irgendetwas zu machen." Daraus schloss Hersman, 36 Jahre alt, dass es mehr bringt, wenn die Hacker des Landes sich zusammenschließen und selbst Unternehmen mit tragfähigen Geschäftsmodellen gründen. Also rief er iHub ins Leben. Das Omidyar Network, initiiert vom eBay-Gründer Pierre Omidyar, spendete 200000 Dollar, um den iHub für zwei Jahre zu finanzieren. Andere, darunter Nokia, Google und der afrikanische Internet-Provider Wananchi, steuerten Ausrüstung und schnelle Internetzugänge bei.
Vor zwei Jahren wurde der Inkubator eröffnet. Mittlerweile hat er 6000 Mitglieder, und jedes Jahr bewerben sich 1000 weitere. Die meisten von ihnen sind lediglich Teil der iHub-Community im Internet, aber gut 250 nutzen auch die Räume. Etwa 40 Unternehmen sind bislang daraus hervorgegangen, zehn von ihnen haben schon eine Erstfinanzierung durch Wagniskapitalfirmen erhalten. Der iHub funktioniert auch deshalb so gut, weil sich die IT-Infrastruktur in Kenia deutlich verbessert hat: Das erste Internet-Glasfaserkabel erreichte 2009 die Küste des Landes, bis dahin war es nur über Satelliten angebunden. Ein Jahr später kam das erste massentaugliche Android-Handy für nur 80 Dollar in Kenia auf den Markt. Safaricom hat mittlerweile 600000 Smartphones in seinem Netz und erwartet, dass ihr Anteil bis 2014 auf 80 Prozent steigen wird.
Aus dem iHub ist auch Shimba Technologies hervorgegangen. Das Start-up, geleitet von zwei Absolventen der University of Nairobi, betreibt eine Plattform namens MedAfrica, die ein Ärzteverzeichnis und einfache Gesundheitsinformationen anbietet. Die Daten können über eine App oder über ein mobiles Web-Interface abgerufen werden. Bald sollen sie auch als SMS-Dienst zur Verfügung stehen – eine entscheidende Verbesserung, denn noch haben 85 Prozent der Mobiltelefone keinen Web-Browser. "Wir können keine Ärzte und keine Krankenhäuser ersetzen, aber wir können die relevanten Informationen leichter zugänglich machen", sagt Steve Mutinda Kyalo, CEO des Unternehmens. Kyalo möchte noch weitere Medizin-Apps in seine Plattform integrieren und sie irgendwann durch Werbung finanzieren. 43000 Menschen haben die App bereits auf ihre Telefone geladen, und von den 100000 Dollar Startfinanzierung ist noch die Hälfte übrig.
Jackie Cheruiyot, eine MedAfrica-Mitarbeiterin, hat als Leukämie-Überlebende die schlechte medizinische Versorgung in ihrem Land aus erster Hand erfahren. Gemeinsam mit Kyalo macht sie sich auf den Weg nach Narok, zwei Stunden westlich von Nairobi, um die App potenziellen Nutzern vorzustellen. Sie marschieren unangemeldet ins staatliche Narok District Hospital. Cheruiyot klopft mit einem entwaffnend gesungenen "Guten Morgen" an die Tür des Pflegeleiters. Der aber schickt sie wieder weg mit der Antwort: "Sie brauchen erst eine Erlaubnis vom Gesundheitsministerium." Die Idee eines Start-ups, das sich im Gesundheitswesen engagieren möchte, klingt für viele immer noch seltsam. "Die Regierung zu überzeugen ist die härteste Nuss", sagt Kyalo, als sie den Rückzug antreten. Andere Start-ups sind ohne die Hilfe des iHub entstanden. Changamka Microhealth zum Beispiel verkauft Bezahlkarten für medizinische Dienste, die über M-Pesa aufgeladen werden können. Für schwangere Frauen gibt es eine spezielle Karte, damit sie die rund 50 Dollar Gebühren für die Geburt nicht bar zu Hause verwahren müssen. Ein weiteres unabhängiges Start-up ist Intellisoft Consulting.
Es entwickelt Plattformen für elektronische Krankenakten, die viele Kliniken in Kenia einsetzen, und nutzt dafür das OpenMRS-System aus Indiana. Auch größere Unternehmen in Kenia arbeiten an techni-schen Gesundheitsdiensten – auf Grundlage vielversprechender Ideen aus dem eigenen Land. Am selben Tag im vergangenen November, als Kyalo mit MedAfrica startete, kündigte Safaricom einen eigenen Dienst zum Anrufen von Ärzten an. In einem Land mit wenigen Ärzten und ohne kostenlose Notfallversorgung können Kranke darüber jetzt zumindest mit einem Arzt telefonieren, für etwa 25 Cent pro Minute. Bislang wer- den täglich etwa 500 solcher Anrufe abgewickelt. Dabei kommt es mitunter zu dramatischen Situationen: Nzioka Waita, Leiter für Corporate Re- sponsibility bei Safaricom, berichtet vom Anruf einer verzweifelten Frau, deren Ehemann bewusstlos war. Mitten im Gespräch war plötzlich ihr Handy-Guthaben aufgebraucht, und die Verbindung brach ab; immerhin konnte der Arzt sie zurückrufen. Nach Angaben von Safaricom gibt es derzeit Verhandlungen mit einem Partner, der Notrufe subventionieren könnte, damit sie künftig nicht mehr so abrupt enden.
Außerdem arbeitet Safaricom mit Partnerunternehmen daran, im Gesundheitswesen Ähnliches zu erreichen wie im Bankgeschäft mit M-Pesa. Derzeit wird – zunächst für schwangere Frauen in einigen ländlichen Distrikten – ein System konzipiert, mit dem Gesundheitshelfer vor Ort für jede Patientin eine elektronische Krankenakte anlegen und pflegen können. Jede Schwangere bekommt eine ID-Karte mit einem Strichcode, der mit der Kamera eines Handys eingescannt wird. Jeder medizinische Dienst wird mit vorausbezahlten Telefonminuten beglichen, die in Kenia als eine Art Ersatzwährung dienen und die von Spendern subventioniert werden können. Das 2,3-Millionen-Projekt soll noch in diesem Jahr in Betrieb gehen.
Das Gegenmodell: Im vergangenen Jahr startete das amerikanische Entwicklungshilfe-Ministerium USAID eine Ausschreibung für ein einheitliches, webbasiertes Gesundheitsinformationssystem, das vom Empfängerland selbst betrieben werden soll. Der Fünfjahresvertrag mit einem Volumen von 32 Millionen Dollar ging an Abt Associates, eine Beratungsfirma in Massachusetts mit viel Erfahrung aus weltweiten Entwicklungsprojekten. Doch die nötige Expertise ist neuerdings auch beim Tech-Nachwuchs in Kenia selbst zu finden – und zusätzlich dazu großes Interesse an dauerhaften Lösungen. "Wenn ich im iHub von einer Ausschreibung über 32 Millionen Dollar erzählen würde, würden die Leute dort verrücktspielen", sagt Hungu von der CHAI. "Damit kann man 500 Start-ups finanzieren. Und die Gesundheitsversorgung hier im Land würde sich für immer verändern, daran habe ich keinen Zweifel." (bsc)