Genschere gegen Erbkrankheit

Die Sichelzellanämie ist eines der häufigsten Erbleiden weltweit. Die Betroffenen haben starke Schmerzen und eine verkürzte Lebenserwartung. Nun arbeiten Forscher an einer Gentherapie, erste Studien an Menschen sind in Vorbereitung.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Emily Mullin
Inhaltsverzeichnis

Hertz Nazaire malt gern in hellen Tönen. Die Farben erinnern den 43-Jährigen an seine Kindheit in Haiti. Eine Serie fällt allerdings viel dunkler aus. Auf einem Bild ertrinkt ein afrikanisches Gesicht in einer Flut aus roten Scheiben, die wie rote Blutkörperchen aussehen, und blauen Sicheln, die an die krankhaft verformten Zellen der Sichelzellanämie-Kranken erinnern. Aus den Augen quellen Tränen, und der Mund ist vor Schmerz aufgerissen. Die Werke handeln von Nazaires lebenslangem Ringen mit der Erbkrankheit. Sie hat den heute in Bridgestone, Connecticut, lebenden Künstler seit seiner Kindheit mehr als 300-mal ins Krankenhaus gebracht. "Es ist ein furchtbares Leiden, weil es extrem schmerzhaft ist", erzählt er.

Die Sichelzellanämie gehört weltweit zu den häufigsten Erbleiden und betrifft Millionen von Menschen. Viele Erkrankte stammen aus Lateinamerika, dem Mittleren Osten, Asien – vor allem Indien – und aus dem Mittelmeerraum. Die meisten Betroffenen aber besitzen afrikanische Wurzeln, weil sich die Sichelzellanämie in den Malariagebieten als Überlebensvorteil erwiesen hat. Bei Trägern der Krankheit kann sich der Erreger in den sichelförmigen Zellen schlechter einnisten. Dafür bezahlen die Betroffenen indes einen hohen Preis. Im Vergleich zur durchschnittlichen Lebenserwartung in den USA von mehr als 78 Jahren liegt die der an Sichelzellanämie Erkrankten nur bei 40 bis 60 Jahren.

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Verursacht wird die Krankheit durch eine Mutation im HBB-Gen, das den Bauplan für das sauerstofftransportierende Hämoglobin-Protein liefert. Rote Blutkörperchen mit gesundem Hämoglobin sind scheibenförmig. Ist das Protein dagegen fehlerhaft, sehen die Blutkörperchen sichelförmig aus. Das gab der Krankheit ihren Namen. Die missgebildeten Zellen sind klebrig und verklumpen. Dadurch können sie Blutgefäße verstopfen und die Sauerstoffversorgung blockieren. Das verursacht die starken Schmerzen. Darüber hinaus bringt die Krankheit häufig Infektionen, Augenprobleme und Organschäden mit sich.

Da die Sichelzellanämie auf einem einzelnen fehlerhaften Gen beruht, das nur an einer Stelle verändert ist, sehen Experten in ihr einen guten Kandidaten für die Anwendung des Gen-Editierwerkzeugs CRISPR. Ließe sich diese sogenannte Punktmutation mit der Genschere korrigieren, könnte der Körper der Patienten wieder gesunde rote Blutkörperchen produzieren. Im Labor haben Forscher bereits erfolgreich Tests an menschlichen Sichelzellen durchgeführt. Inzwischen werden klinische Studien vorbereitet. "Ich wäre der Erste, der sich für solch eine Studie freiwillig meldet", sagt Nazaire.

Gen-Editiermethoden - eine kleiner Einblick (6 Bilder)

Das System aus CRISPR (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) und der Cas9-Nuklease haben die Molekularbiologinnen Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier 2012 entdeckt. Dank seiner einfachen Handhabe und geringer Kosten erlebt die Gentherapie derzeit ein Revival.
(Bild: Text: Inge Wünnenberg; Grafik: Brian Sipple)

Das erste Mal hat der Maler vor zwei Jahren von CRISPR gehört, als er ein YouTube-Video von Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier ansah. Die beiden Forscherinnen gehören zu den Erfindern der Methode. Charpentier, heute am Berliner Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie tätig, gründete nach der Entdeckung CRISPR Therapeutics. Das Start-up ist eines der wenigen, die an Gentherapien für Sichelzellanämie-Patienten arbeiten. Für die Behandlung werden dem Blut von Betroffenen Stammzellen entnommen. In den Stammzellen aktivieren die Mitarbeiter mit CRISPR einen genetischen Schalter, der die Menge der fetalen Form des Hämoglobins in roten Blutkörperchen erhöht und sie dadurch heilt. Anschließend werden den Patienten die modifizierten Stammzellen wieder injiziert.

CRISPR-Therapeutics-Präsident Samarth Kulkarni hält dieses Vorgehen für sicherer, als den Patienten die Genschere selbst zu verabreichen. Denn die Methode kann immer noch zu unbeabsichtigten Schnitten im Erbgut führen. Die Folgen – auch die Entwicklung von Krebs gehört zu den Risiken – sind in der Regel nicht kalkulierbar. Im Labor konnten die Wissenschaftler dagegen 85 Prozent der Blutstammzellen erfolgreich editieren und dadurch gesunde rote Blutkörperchen erzeugen. Beim Patienten würden die korrigierten Stammzellen ins Knochenmark wandern und dort rote Blutkörperchen produzieren. Außerdem würden sich die geheilten Stammzellen vermehren und allmählich die Zahl der kranken übertreffen, sagt Kulkarni: "Wir hoffen, dass es eine einmalige und lebenslang wirkende Behandlung werden kann."

Neben CRISPR Therapeutics arbeiten noch weitere Forscher an Therapien. Kinderarzt Matthew Porteus von der Stanford University School of Medicine will zum Beispiel das mutierte HBB-Gen selbst korrigieren. Porteus, der zu den Mitgründern von CRISPR Therapeutics zählt und dem wissenschaftlichen Beirat des Unternehmens angehört, arbeitet unabhängig von dem Biotech-Start-up an einem eigenen Ansatz. In seinem Setting müssten nicht mal alle defekten Blutzellen durch gesunde ersetzt werden, um die Krankheit zu heilen. Patienten zeigen laut Porteus bereits keine Symptome mehr, wenn der Anteil der Sichelzellen unter 30 Prozent sinkt. Im Labor erzielte sein Team bei den Stammzellen von erkrankten Patienten Korrekturraten zwischen 40 und 70 Prozent.

Voraussetzung für all diese Heilungsansätze mit Stammzellen wäre aber eine zuvor erfolgte, eventuell auch weniger starke Chemotherapie für den Patienten, kommentiert Mitchell Weiss vom St. Jude Children's Research Hospital in Memphis. Die würde benötigt, um Platz für die modifizierten Stammzellen zu schaffen, sagt der Forscher, der als Hauptautor einer Studie im Fachmagazin "Nature Medicine" mit seinem Team einen ähnlichen Ansatz wie CRISPR Therapeutics, aber unabhängig von den anderen Teams verfolgt.

Erste Studien mit Menschen sind geplant. Bis zu ihrem Start wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Immerhin ist das Vorhaben bereits so konkret, dass die amerikanische Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH) herausfinden will, was Patienten, aber auch deren Eltern und Ärzte über die neue Technologie denken. Die Studie, für die rund 150 Personen befragt werden sollen, wird demnächst starten. Studienleiter Vence Bonham, ein Forscher am National Human Genome Research Institute, hofft, dadurch "klinische Studien zweckdienlicher und respektvoller gegenüber den Bedenken der Gemeinschaft" machen zu können. Denn bisher seien Einschätzungen und Sorgen seitens der Patienten kaum berücksichtigt worden.

Biree Andemariam, Direktorin des New England Sickle Cell Institute at the University of Connecticut Health Centers, rechnet vor allem mit Misstrauen – insbesondere unter den schwarzen Patienten. Sie könnten zögern, an klinischen Studien teilzunehmen. Der Grund sind skandalöse Vorkommnisse in der Vergangenheit wie die Tuskegee-Syphilis-Studie: Sie wurde ohne Zustimmung und Wissen der afroamerikanischen Probanden durchgeführt. Die erkrankten Teilnehmer erhielten zwischen 1932 und 1972 keine Behandlung, selbst als es schon wirksame Medikamente gab. So wurde das Projekt zu einem berüchtigten Beispiel für Rassismus. "Das Tuskegee-Experiment ist in vielen Köpfen noch sehr frisch, obwohl es schon Jahrzehnte her ist", sagt Andemariam.

Sie ist allerdings überzeugt, dass mit der richtigen Aufklärung das nötige Vertrauen aufgebaut werden kann. Denn als Andemariam sich mit ihren erwachsenen Patienten über das therapeutische Potenzial von CRISPR unterhielt, war das Echo sehr positiv: "Sie sind fasziniert und finden, es klingt wundervoll", berichtet die Forscherin.

Sollte eine auf CRISPR basierende Gentherapie für die Sichelzellanämie auf den Markt kommen, lautet eine der zentralen Fragen, wer sie erhalten wird. Denn abgesehen von den 100000 amerikanischen Patienten leben die meisten Betroffenen in den Ländern südlich der Sahara in Afrika, zum Beispiel in Nigeria, der Demokratischen Republik Kongo oder Uganda. Der Preis einer CRISPR-Therapie könnte daher für 90 Prozent der Patienten weltweit unerschwinglich sein. Selbst die bereits existierende Behandlung mit Hydroxycarbamid, die ein bis zwei Dollar pro Tag kostet, können sie oft kaum bezahlen, berichtet Isaac Odame vom Hospital for Sick Children in Toronto, der sich auf die Krankheit spezialisiert hat und aus Ghana stammt.

Für die restlichen zehn Prozent aber wäre die Gentherapie ein Segen. Der Maler Nazaire erhielt vor Kurzem eine sogenannte Apherese, eine Art Blutwäsche, bei der ein Teil der kranken roten Blutkörperchen durch gesunde ersetzt wird. Das reduzierte seine Schmerzen. Aber die Wirkung könnte mit der Zeit nachlassen. Er sieht deshalb in CRISPR ein Versprechen auf ein besseres, längeres Leben: "Ich denke, dass man das nutzen sollte. Wenn Sie mit etwas konfrontiert sind, das lebensbedrohlich und zum Verzweifeln ist, dann wollen Sie, dass dagegen etwas unternommen wird."

(bsc)