Klickbare Realität

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STARTSCHUSS IM FEBRUAR

Doch zunächst gab es nicht viel Auswahl bei den Online-Karten: Seit ihrem Start im Jahr 1996 dominierte in den USA eine einzige Website -- MapQuest -- diese Nische. Zwar schrieben viele Leute Programme, mit denen sich MapQuest-Karten für andere Verwendungen kopieren ließen. Kompliziertere Vorhaben aber konnten so nicht realisiert werden, etwa die Integration eigener Daten in die fremden Karten. Irgendwann verbot MapQuest die Umwidmung seiner Karten sogar komplett. Das schuf neue Nachfrage nach weiterverwertbarem Kartenmaterial - Nachfrage, die jetzt von Unternehmen wie Google, Microsoft oder Yahoo bedient wird.

Bis dahin mussten aber noch einige Dinge passieren. Zunächst einmal mussten Computer mit genügend Rechenkraft und Speicherkapazität her, um mit den vielen Gigabyte Daten und den komplexen mathematischen Transformationen zurechtzukommen, die für die Anzeige und Veränderung digitaler Karten nötig sind. Dieses Problems hat sich Moore's Gesetz angenommen, wie Locative-Ingenieur Erle anmerkt.

Zweitens musste die offene Haltung der Open-Source- Community die Mauern der traditionellen Anbieter von Geo- Informationen wie etwa ESRI durchdringen. Das Unternehmen hatte seine Kunden bei Banken, Stadtplanern und dem Militär -- sein Fokus lag also darauf, möglichst genaue Daten zu liefern, anstatt zu experimentieren und spaßige interaktive Web-Karten zu entwickeln. Aber durch Bemühungen von Organisationen wie dem Open Geospatial Consortium oder dem World Wide Web Consortium sind Standards für Karten-APIs entstanden -- und Erweiterungen der Web-Sprache XML: Die XML-Auszeichnungen "38.888 " und "-77.035" etwa machen klar, dass ein Dokument sich auf das Washington Monument, ein berühmtes Denkmal für den ersten US-Präsidenten, bezieht.

Drittens mussten auch die Eigentümer von großen Datenbanken im Web erkennen, dass es sich lohnen kann, Zugriffe von außen zu erlauben. Als eines der ersten dieser Unternehmen veröffentlichte Amazon.com im Jahr 2003 eine API, über die Entwickler Produktinformationen abrufen und in beliebiger Form auf ihren eigenen Webseiten darstellen können; einzige Bedingung: Käufe müssen weiter auf der Amazon-Website abgewickelt werden. Zu dieser Zeit war die Grundidee solcher "Web-Services" -- dass also die Datenbanken von Online- Shops und dergleichen so standardisiert sein sollten, dass andere sie verwerten können - noch radikal neu. Heute ist sie Richtschnur für eine stetig wachsende Zahl von Open-Source- Entwicklern -- und sogar für Großunternehmen wie Microsoft.

Zu Beginn des Jahres 2005 war also alles bereit: leistungsfähige Hardware, Standards und der Wille zur Zusammenarbeit. Was noch fehlte, war der Startschuss. Und der fiel am 8. Februar - an dem Tag, an dem Google Maps online ging. Schon nach kurzem Ausprobieren zeigt sich, dass der Dienst einiges zu bieten hat. Zu den offensichtlichen Vorteilen zählen die Satelliten-Ansichten und die Möglichkeit, den Ausschnitt in alle Richtungen zu bewegen, ohne dass die Seite neu geladen werden muss. Auch die Info-Blasen, die auf Ergebnisse lokaler Suchanfragen zeigen, sind durchaus gefällig. Aber was Programmierer wirklich begeistert, steckt unter der schicken Oberfläche. Schon wenige Stunden nach der Veröffentlichung von Google Maps hatten sie die Funktionsweise analysiert und entdeckt, dass die meisten interaktiven Funktionen über Mini-Programme in der Web-Programmiersprache Javascript realisiert waren. Also konnten sie die Karten einfach mit neuen Javascripts verändern -- sodass beispielsweise eigene Informationen anstelle der Google-Suchergebnisse in den Info-Fenstern zu sehen sind.

EIN UNERSCHLOSSENER KONTINENT

Fast sofort begannen Programmierer damit, eigene Dienste auf Grundlage der Google-Infrastruktur zu entwickeln. Zum Glück sehen die betroffenen Unternehmen derlei Aktivitäten zumeist entspannt. Google ist sogar ausgesprochen interessiert an Experimenten freier Programmierer - so interessiert, dass es am 30. Juni eine offizielle API für den Map-Dienst veröffentlichte. Das startete eine noch größere Welle von Variationen der Karten - von praktisch bis leicht verstörend. So kann man sich bei ahding.com/cheapgas die Standorte billiger Tankstellen auf einer Google-Karte anzeigen lassen; die Preis-Informationen dafür stammen von gasbuddy.com. Auf FloridaSexualPredators.com wiederum lassen sich Karten mit Markierungen für alle Sexualstraftäter in Florida aufrufen, die in der öffentlichen Datenbank des Staates verzeichnet sind. Wer auf einen der Marker klickt, bekommt Namen, Adresse und das Polizeifoto des Verbrechers angezeigt.

Entwickler dürfen die Map-APIs nur nutzen, wenn sie damit keine kommerziellen Ziele verfolgen, und noch blendet auch Google selbst keine Anzeigen auf den Kartenseiten ein. Aber auf Unternehmen, die nach der nächsten großen Geschäftschance im Internet suchen, muss das Geo-Web wirken wie ein unerschlossener Kontinent, der nur darauf wartet, mit Reklameschildern zugepflastert zu werden. Besonders für Anbieter aus dem Suchgeschäft ist die Attraktivität aus einem einfachen Grund hoch: Interaktive Karten haben das Potenzial, kontextbezogene Werbung deutlich wirkungsvoller zu machen -- also genau das Produkt, von dem die Suchindustrie größtenteils lebt: Jedes Mal, wenn Sie über Google etwas suchen oder eine Mail bei Gmail lesen, sind auf der rechten Browser-Seite vollkommen unterschiedliche Anzeigen zu sehen. Die Auswahl ist alles andere als zufällig -- jedes Inserat passt zu einem Wort, das Sie als Suchbegriff eingegeben haben oder in der gerade gelesenen E-Mail steht. Denn wenn ein Nutzer sich sowieso gerade mit etwas Ähnlichem beschäftigt, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass er auf entsprechende Anzeigen reagiert. Und weil sie von Anzeigenkunden pro Klick auf ihre Werbung bezahlt werden, haben die Suchunternehmen allen Grund dazu, dem Nutzer wirklich in jeder Situation möglichst relevante Anzeigen zu präsentieren.