Krebstherapie: Carmens letzte Chance?

Seite 2: Bemerkenswerte Wirkungen

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Um den Grund dafür zu finden, startete das US-amerikanische National Cancer Institute (NCI) im Sommer 2015 eine große Studie mit 3000 Patienten. Bei 24 Therapieansätzen soll die Untersuchung klären helfen, welche Medikamente bei welchen Genveränderungen wie gut funktionieren. Und sie soll Auskunft darüber geben, wie die Mittel bestimmte Stoffwechselpfade beeinflussen. Bis Ende vorigen Jahres gab es für rund 22 Prozent der Erbgutveränderungen tatsächlich ein passendes Medikament. Nun muss sich zeigen, wie gut es in den verschiedenen Tumorgeweben wirkt. "Es ist kein einfacher Fall von: ,Mach den Ball rein'", sagt Barbara Conley vom National Cancer Institute. Trotzdem sind sie und Hyman zuversichtlich. Die Anzahl der sequenzierten Tumor-DNA wachse, immer mehr auf dieser Grundlage ausgewählte Mittel befinden sich in klinischen Tests. Das verbessere die Behandlung stetig. Ein Patient, für den es heute noch keine Therapie gebe, könnte schon morgen behandelbar sein.

So jedenfalls war es bei Carmen Teixidor. Eine Biopsie ihrer Tumore hatte 2013 mehrere Mutationen aufgedeckt, darunter die des Gens AKT1. Eine Veränderung dieses Gens bewirkt die unkontrollierte Produktion bestimmter Enzyme. Die Folgen sind vermehrtes Zellwachstum, häufigere Zellteilungen und Metastasenbildung. Das mutierte AKT1-Gen findet sich unter anderem bei Patienten mit Darm-, Brust- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Deshalb arbeiten verschiedene Pharma-Unternehmen an AKT-Hemmern. Erste klinische Studien mit ihnen waren Hyman zufolge zwar weitgehend erfolglos. Aber der Arzt glaubte, dass für Träger der Mutation eine größere Erfolgschance bestehe.

Eines dieser Mittel war AstraZenecas Wirkstoffkandidat AZD5363. Im September 2015 begann Teixidor, ihn einzunehmen. Zunächst litt sie unter schlimmen Nebenwirkungen. Doch nachdem die Ärzte die Dosis angepasst hatten, verbesserte sich ihr Zustand fast umgehend. Nach nur wenigen Wochen war die Wirkung buchstäblich spürbar, erinnert sich Teixidor. Die Tumore verschwanden und waren nicht mehr zu ertasten. "Das war sehr typisch. Wenn die Präzisionstherapie wirkt, wirkt sie sehr schnell", sagt Hyman.

Zwei Monate später präsentierten die Forscher erste Ergebnisse der Studie bei einer Tagung der Amerikanischen Krebsforschungsgesellschaft. "Die Mehrheit der Patienten erlebte ein gewisses Schrumpfen ihres Tumors", berichtete Hyman. Bei Teixidor war die Wirkung besonders langlebig. Deshalb nahmen die Wissenschaftler die Sequenz ihrer Krebs-DNA erneut unter die Lupe, um nach Hinweisen für die starke Anfälligkeit zu suchen. Teixidor selbst wollte lieber wissen, "mit welchen Langzeitnebenwirkungen ich rechnen sollte". Aber auf diese Frage kannten die Ärzte keine Antwort.

Solch bemerkenswerte Wirkungen ziehen jedoch grundlegende Fragen nach sich. Denn die Präzisionsmedizin ist extrem aufwendig. Das macht sie zum einen teuer. Die Kosten für eine Tumorsequenzierung liegen zwischen 600 und 1000 Dollar, die Medikamente selbst schlagen leicht mit 10000 Dollar pro Monat zu Buche. Zum anderen ist die gezielte Therapie bisher nur ein Werkzeug für eine kleine Gruppe von Medizinern. Teixidor hatte das Glück, in einem der großen Universitätszentren behandelt zu werden.

Aber nicht jedes Behandlungszentrum kann die neuesten Erkenntnisse der Tumorgenetik nutzen. Wie vielen von den jährlich 1,6 Millionen Krebspatienten in Amerika wird die Präzisionsmethode zugute kommen? Wer wird Zugang zu der teuren Behandlung erhalten? Harold Varmus vom Weill Cornell Medical College in New York befürchtet: zu wenigen. "Eine der größten verlorenen Chancen" der Krebsgenetik sei die geringe Zahl der Patienten, bei denen sie angewandt werde. Aber Krankenversicherungen in den USA bezahlen die Erbgutanalyse nicht. Dabei sei sie günstiger als die bildgebenden Standardverfahren wie Computertomografie, sagt Varmus.

Es gibt allerdings auch Kritiker, die den Nutzen des neuen Ansatzes generell infrage stellen. Der Onkologe Vinay Prasad von der Oregon Health and Science University in Portland hat ausgerechnet, dass nur anderthalb Prozent der Patienten mit wiederkehrenden, behandlungsresistenten Tumoren von Präzisionstherapien profitieren könnten. Viele würden zudem nur wenige Monate länger leben. Auch sein Kollege Howard West vom Swedish Cancer Institute in Seattle sieht es kritisch, wie einige Forscher die wenigen Erfolge feiern: "Klar gibt es ein paar Gewinner. Aber es ist doch wie eine Lotterie. Ist es das wirklich wert, Millionen von Dollar für Tests auszugeben, um dann vier Patienten zu finden, die man sonst nicht gefunden hätte?"

Razelle Kurzrock vom Moores Cancer Center an der University of California in San Diego kann die Einwände nicht teilen. Sie hat mit Kollegen Hunderte von klinischen Studien ausgewertet. Das Ergebnis: Medikamente, die besonders gut zu einer Mutation passen, können vielen das krankheitsfreie Überleben signifikant verlängern. "Die große Mehrheit der Krebsarten reagiert eindeutig positiv", betont Kurzrock. "Sie können phänomenale Wirkungen sehen." Die Erfolgsquote dürfte noch weiter steigen, wenn Ärzte mehrere Präzisionstherapien miteinander kombinierten.

Je mehr Daten sie sammeln, so die Hoffnung der Ärzte, desto mehr Patienten können sie schließlich helfen. "Wir können nicht einfach aufhören", sagt Hyman. "Selbst wenn es nicht allen Patienten hilft, sondern nur einem oder fünf oder zehn Prozent, ist das auch genug." So gebe es eine Genmutation, die nur bei einem Prozent aller Lungenkrebspatienten vorkomme. Ihr Leben lasse sich mit einem Medikament, das die FDA im März 2016 zugelassen hat, "dramatisch verlängern".

Carmen Teixidor ist ungeachtet aller Zahlen vor allem dankbar. So lange mit dem Krebs gelebt zu haben, kommt ihr manchmal befreiend vor. "Was ist schon das Leben, wenn du seine Kanten nicht fühlen kannst", fragt sie philosophisch. Andererseits hat sie im vergangenen November erneut erfahren, dass ihr Krebs zurückgekehrt ist. "Im Moment würde ich viel darum geben, die Kanten nicht zu fühlen", sagt sie. (bsc)