Krebstherapie: Carmens letzte Chance?

Operationen, Chemo und Bestrahlungen: Seit 30 Jahren kämpft Carmen Teixidor gegen den Krebs. Nun soll der New Yorker Künstlerin eine neue Art von Genmedizin endlich helfen.

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Von
  • Stephen S. Hall
Inhaltsverzeichnis

Carmen Teixidors Angst vor dem Aufwachen nach einer Operation begann 1985. Die Ärzte teilten ihr damals mit, dass sie ihre linke Brust amputiert hatten, weil sie darin auf einen großen Tumor gestoßen waren. "Nichts als Angst" habe sie damals empfunden, sagt die Künstlerin und starrt auf den Fußboden ihrer New Yorker Wohnung. Es gibt keinen guten Zeitpunkt für eine Krebsdiagnose. Aber sie erhielt den Befund, als sie gerade ihre Karriere als Künstlerin startete. Mittlerweile ist Teixidor über siebzig, eine schlanke Erscheinung und hat ihr grau werdendes Haar zu einem jugendlichen Pferdeschwanz zusammengebunden.

In den auf die Operation folgenden Jahrzehnten bewältigte sie einen Rückfall nach dem anderen, sie unterwarf sich wiederholt chirurgischen Eingriffen, ertrug mehrere Runden an Bestrahlungen und Hormontherapien. Sogar eine Chemotherapie probierte Teixidor, aber diese minderte ihre Lebensqualität so sehr, dass sie das Verfahren seither meidet. Am Ende war die New Yorkerin überzeugt, jede Behandlung kennengelernt zu haben, die in den vergangenen drei Jahrzehnten zur Verfügung stand. Aber die Angst vor den schlechten Nachrichten blieb.

TR 6/2017

Nun könnte es endlich anders werden. Zunächst beachtete Teixidor es kaum, dass Ärzte vom New Yorker Memorial Sloan Kettering Cancer Center einen winzigen Schnipsel ihres Tumors untersuchten und dessen DNA sequenzierten. Sie wollten wissen, welche Mutationen den bösartigen Krebs der Künstlerin steuern. Denn auf genetische Veränderungen dieser Art ist eine neue Generation von Medikamenten spezialisiert. Wie sich herausstellte, besaß Teixidors Tumor tatsächlich mehrere medizinisch interessante Mutationen. Allerdings gab es erst mal kein passendes Medikament. Sie musste warten.

Das war nicht schlimm, denn ihr Krebs schien zu diesem Zeitpunkt unter Kontrolle. Dann aber "hatte ich einen besonders schlimmen Rückfall", sagt die Künstlerin. An ihrem Hinterkopf konnte sie mehrere sich hervorwölbende Tumore ertasten. Weitere Wucherungen nisteten sich in Kiefer und Hals ein. Scans entdeckten noch mehr in den Knochen und in der Hüfte. Die Krankheit, die Teixidors Leben so lange überschattet hatte, war in eine neue, dunkle Phase getreten.

Zum Glück hatte sich nicht nur Teixidors Krebs verändert, sondern auch die Wissenschaft war weiter fortgeschritten. Inzwischen gab es ein experimentelles Medikament gegen eine ihrer genetischen Veränderungen. Die Ärzte nahmen sie in die klinische Studie auf, und sie begann im Spätsommer 2015 mit der Einnahme. Nach wenigen Wochen spürte sie, wie die Tumore schrumpften. Scans bestätigten die Entwicklung.

Seit dem Humangenomprojekt träumen Wissenschaftler davon, persönliche molekulare Informationen von Patienten für bessere Diagnosen und Therapien zu nutzen. Diese Vision basiert auf einem schlichten Mechanismus: Ist die Erbgutsequenz von Menschen mit Leiden wie Diabetes, Herzkrankheiten und Schizophrenie bekannt, lassen sich die verantwortlichen Mutationen identifizieren und als Ziel für neue Medikamente ins Visier nehmen. Allerdings reicht das medizinische Wissen bisher nicht aus, um der Komplexität der Krankheiten Herr zu werden.

Mit einer Ausnahme: Krebs. Die Therapien dort sind ein Lichtblick in der Geschichte der Enttäuschungen. 1998 genehmigte die US-Zulassungsbehörde für Lebensmittel und Medikamente FDA eine Arznei für Brustkrebspatienten, deren Tumorzellen eine besonders aktive Variante des Rezeptors HER-2 besitzen. Herceptin war das erste Präzisionsmedikament gegen Krebs. Es folgten zwei weitere Blockbuster-Mittel: 2001 kam Gleevec gegen Leukämie auf den Markt und 2011 Zelboraf gegen Melanome, eine tödliche Krebsart, die hauptsächlich in der Haut entsteht.

Der Erfolg dieser Medikamente und die immer günstiger werdende DNA-Sequenzierung weckten die Hoffnung, dass nun bald jeder Tumor nach Mutationen durchsucht werden könne, um den richtigen Wirkstoff zu finden. Die Behandlung würde sich nicht mehr nach der befallenen Gewebeart richten, sondern nach der genetischen Ursache. Die Idee der Präzisionsmedizin war geboren.

David Hyman – einer von Teixidors Ärzten – gehörte zu den Ersten, die diesen neuen Ansatz im großen Stil testeten. Im April 2015 begannen unter Hymans Leitung Mediziner von 15 führenden Krebszentren in den USA und Europa, Patienten für eine große klinische Studie zu rekrutieren. Der Ausgangspunkt waren Melanompatienten. Bekannt war, dass die Hälfte von ihnen eine mutierte Variante des BRAF-Gens besitzt. Das machte den Krebs anfällig für das Medikament Zelboraf. Es brachte zwar keine vollständige Heilung, hielt aber die Krankheit bei einigen vorübergehend auf.

Hyman wollte wissen, ob die Mutation auch bei anderen Krebsarten zu finden ist – und am Ende natürlich, ob ihnen das gleiche Medikament helfen kann. Die Ergebnisse publizierten die Mediziner im August 2015 im angesehenen "New England Journal of Medicine". Sie fielen zwiespältig aus. Hyman und seine Kollegen hatten zwar die BRAF-Mutation bei so verschiedenen Krebsarten wie Lungen-, Dickdarm- sowie Schilddrüsenkrebs gefunden. Doch das Medikament wirkte nicht immer verlässlich. Bei nicht kleinzelligen Lungenkarzinomen zum Beispiel verlangsamte es die Krankheit bei mehr als 40 Prozent der Patienten. Bei Dickdarmkrebs versagte es dagegen komplett. "Realistisch gesehen wird das Mittel vielen Patienten nicht helfen. Für andere wird es jedoch die wichtigste Behandlung überhaupt sein", kommentiert Michael Kolodziej vom Unternehmen Flatiron Health, das elektronische Patientenakten nach nützlichen Informationen durchforstet, die Ergebnisse. "Aber ich kann derzeit einfach nicht beurteilen, wer zu welcher Gruppe gehört."

Um den Grund dafür zu finden, startete das US-amerikanische National Cancer Institute (NCI) im Sommer 2015 eine große Studie mit 3000 Patienten. Bei 24 Therapieansätzen soll die Untersuchung klären helfen, welche Medikamente bei welchen Genveränderungen wie gut funktionieren. Und sie soll Auskunft darüber geben, wie die Mittel bestimmte Stoffwechselpfade beeinflussen. Bis Ende vorigen Jahres gab es für rund 22 Prozent der Erbgutveränderungen tatsächlich ein passendes Medikament. Nun muss sich zeigen, wie gut es in den verschiedenen Tumorgeweben wirkt. "Es ist kein einfacher Fall von: ,Mach den Ball rein'", sagt Barbara Conley vom National Cancer Institute. Trotzdem sind sie und Hyman zuversichtlich. Die Anzahl der sequenzierten Tumor-DNA wachse, immer mehr auf dieser Grundlage ausgewählte Mittel befinden sich in klinischen Tests. Das verbessere die Behandlung stetig. Ein Patient, für den es heute noch keine Therapie gebe, könnte schon morgen behandelbar sein.

So jedenfalls war es bei Carmen Teixidor. Eine Biopsie ihrer Tumore hatte 2013 mehrere Mutationen aufgedeckt, darunter die des Gens AKT1. Eine Veränderung dieses Gens bewirkt die unkontrollierte Produktion bestimmter Enzyme. Die Folgen sind vermehrtes Zellwachstum, häufigere Zellteilungen und Metastasenbildung. Das mutierte AKT1-Gen findet sich unter anderem bei Patienten mit Darm-, Brust- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Deshalb arbeiten verschiedene Pharma-Unternehmen an AKT-Hemmern. Erste klinische Studien mit ihnen waren Hyman zufolge zwar weitgehend erfolglos. Aber der Arzt glaubte, dass für Träger der Mutation eine größere Erfolgschance bestehe.

Eines dieser Mittel war AstraZenecas Wirkstoffkandidat AZD5363. Im September 2015 begann Teixidor, ihn einzunehmen. Zunächst litt sie unter schlimmen Nebenwirkungen. Doch nachdem die Ärzte die Dosis angepasst hatten, verbesserte sich ihr Zustand fast umgehend. Nach nur wenigen Wochen war die Wirkung buchstäblich spürbar, erinnert sich Teixidor. Die Tumore verschwanden und waren nicht mehr zu ertasten. "Das war sehr typisch. Wenn die Präzisionstherapie wirkt, wirkt sie sehr schnell", sagt Hyman.

Zwei Monate später präsentierten die Forscher erste Ergebnisse der Studie bei einer Tagung der Amerikanischen Krebsforschungsgesellschaft. "Die Mehrheit der Patienten erlebte ein gewisses Schrumpfen ihres Tumors", berichtete Hyman. Bei Teixidor war die Wirkung besonders langlebig. Deshalb nahmen die Wissenschaftler die Sequenz ihrer Krebs-DNA erneut unter die Lupe, um nach Hinweisen für die starke Anfälligkeit zu suchen. Teixidor selbst wollte lieber wissen, "mit welchen Langzeitnebenwirkungen ich rechnen sollte". Aber auf diese Frage kannten die Ärzte keine Antwort.

Solch bemerkenswerte Wirkungen ziehen jedoch grundlegende Fragen nach sich. Denn die Präzisionsmedizin ist extrem aufwendig. Das macht sie zum einen teuer. Die Kosten für eine Tumorsequenzierung liegen zwischen 600 und 1000 Dollar, die Medikamente selbst schlagen leicht mit 10000 Dollar pro Monat zu Buche. Zum anderen ist die gezielte Therapie bisher nur ein Werkzeug für eine kleine Gruppe von Medizinern. Teixidor hatte das Glück, in einem der großen Universitätszentren behandelt zu werden.

Aber nicht jedes Behandlungszentrum kann die neuesten Erkenntnisse der Tumorgenetik nutzen. Wie vielen von den jährlich 1,6 Millionen Krebspatienten in Amerika wird die Präzisionsmethode zugute kommen? Wer wird Zugang zu der teuren Behandlung erhalten? Harold Varmus vom Weill Cornell Medical College in New York befürchtet: zu wenigen. "Eine der größten verlorenen Chancen" der Krebsgenetik sei die geringe Zahl der Patienten, bei denen sie angewandt werde. Aber Krankenversicherungen in den USA bezahlen die Erbgutanalyse nicht. Dabei sei sie günstiger als die bildgebenden Standardverfahren wie Computertomografie, sagt Varmus.

Es gibt allerdings auch Kritiker, die den Nutzen des neuen Ansatzes generell infrage stellen. Der Onkologe Vinay Prasad von der Oregon Health and Science University in Portland hat ausgerechnet, dass nur anderthalb Prozent der Patienten mit wiederkehrenden, behandlungsresistenten Tumoren von Präzisionstherapien profitieren könnten. Viele würden zudem nur wenige Monate länger leben. Auch sein Kollege Howard West vom Swedish Cancer Institute in Seattle sieht es kritisch, wie einige Forscher die wenigen Erfolge feiern: "Klar gibt es ein paar Gewinner. Aber es ist doch wie eine Lotterie. Ist es das wirklich wert, Millionen von Dollar für Tests auszugeben, um dann vier Patienten zu finden, die man sonst nicht gefunden hätte?"

Razelle Kurzrock vom Moores Cancer Center an der University of California in San Diego kann die Einwände nicht teilen. Sie hat mit Kollegen Hunderte von klinischen Studien ausgewertet. Das Ergebnis: Medikamente, die besonders gut zu einer Mutation passen, können vielen das krankheitsfreie Überleben signifikant verlängern. "Die große Mehrheit der Krebsarten reagiert eindeutig positiv", betont Kurzrock. "Sie können phänomenale Wirkungen sehen." Die Erfolgsquote dürfte noch weiter steigen, wenn Ärzte mehrere Präzisionstherapien miteinander kombinierten.

Je mehr Daten sie sammeln, so die Hoffnung der Ärzte, desto mehr Patienten können sie schließlich helfen. "Wir können nicht einfach aufhören", sagt Hyman. "Selbst wenn es nicht allen Patienten hilft, sondern nur einem oder fünf oder zehn Prozent, ist das auch genug." So gebe es eine Genmutation, die nur bei einem Prozent aller Lungenkrebspatienten vorkomme. Ihr Leben lasse sich mit einem Medikament, das die FDA im März 2016 zugelassen hat, "dramatisch verlängern".

Carmen Teixidor ist ungeachtet aller Zahlen vor allem dankbar. So lange mit dem Krebs gelebt zu haben, kommt ihr manchmal befreiend vor. "Was ist schon das Leben, wenn du seine Kanten nicht fühlen kannst", fragt sie philosophisch. Andererseits hat sie im vergangenen November erneut erfahren, dass ihr Krebs zurückgekehrt ist. "Im Moment würde ich viel darum geben, die Kanten nicht zu fühlen", sagt sie. (bsc)