Künstliche Embryonen

Stammzellen können sich zu Strukturen zusammenlagern, die menschlichen Embryonen ähneln. Erste Experten halten sogar den Schritt zum künstlichen Embryo für möglich. Dürfen die Wissenschaftler weiterforschen?

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Antonio Regalado
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Vor zwei Jahren machte Yue Shao eine Entdeckung, die ihn noch lange beschäftigen sollte: An der University of Michigan erforschte er menschliche embryonale Stammzellen. Er suchte nach Methoden, um aus diesen Zellen organisierte dreidimensionale Strukturen zu formen. Der Maschinenbau-Ingenieur mit einem Faible für die Biologie ließ sie in einer weichen, gelartigen Gerüstsubstanz wachsen und hielt nach primitivem Nervengewebe Ausschau. Dabei fiel ihm auf, dass sich die Zellen sehr viel schneller zu verändern schienen als erwartet. Außerdem ordneten sie sich innerhalb weniger Tage zu einem unregelmäßigen Kreis an.

Um herauszufinden, was das sein könnte, begann Shao zu googeln. Auf einer Webseite namens "The Virtual Human Embryo" stieß er auf Mikroskopaufnahmen von zehn Tage alten menschlichen Embryonen. Sie sahen aus wie seine Strukturen. Hatten sie tatsächlich einen echten menschlichen Embryo aus Stammzellen hergestellt?

Wie das Team herausfand, handelte es sich bei den Konstrukten nicht um vollständige Embryonen. Tests bestätigten, dass es lediglich Teile von Embryonen waren. Die Zellhaufen besaßen zwar die Anfänge einer Fruchtblase. Es fehlte allerdings eine ganze Zelllinie – Trophoblast genannt –, aus der später die Plazenta entsteht. Im Inneren der Zellklumpen fanden die Forscher nur einen der drei entscheidenden Zelltypen, aus denen sich ein Körper bildet. Die Bausteine für Plazenta, Herz und Gehirn waren ebenfalls nicht vorhanden. Trotzdem sahen die "Embryoide" so realistisch aus, dass die Forscher sie fünf Tage nach ihrer Erzeugung vernichteten.

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Das Team aus Michigan hielt sich damit an eine Übereinkunft unter Wissenschaftlern in den USA, die mit natürlichen menschlichen Embryonen arbeiten. Usus ist: Kein Embryo wird länger als zwei Wochen untersucht. Es gilt die "14-Tage-Regel". Dennoch wirft die Arbeit tiefgreifende Fragen auf – umso mehr, als Forschungen mit sogenannten Embryoiden nicht nur an der University of Michigan stattfinden.

Shaos Experiment ist Teil einer rasanten Entwicklung. Sie setzte mit der Nachbildung von Organstrukturen ein: Dafür brachten Wissenschaftler Stammzellen dazu, sogenannte Organoide zu bilden, organisierte Gewebestrukturen. Anfangs waren die Gebilde noch rudimentär. Doch mittlerweile ähneln die Zellklumpen immer stärker Stücken von Gehirn, Lunge oder Darm. Die Mini-Organe sind viel kleiner als die Originale, etwa von der Größe eines Sandkorns, und oft weniger komplex. Trotzdem zeigen sie grundlegende Eigenschaften. Lungen-Organoide etwa besitzen verzweigende Atemwege oder wogende Lungenhärchen. Voriges Jahr konnte mithilfe von Gehirn-Organoiden sogar gezeigt werden, wie das Zika-Virus Gehirnzellen infiziert.

Jetzt halten es einige Forscher sogar für möglich, Embryonen nachzubauen. Sie wollen mit der neuen Technologie die faszinierenden Anfangskapitel der menschlichen Entwicklung im Detail untersuchen. Das war bislang schwierig, weil echte Menschen-Embryonen im Labor nicht länger als eine Woche wachsen. Die späteren Schlüsselereignisse sind unzugänglich für die Wissenschaft, da Forschung an menschlichen Embryonen in der Regel verboten ist. In der "synthetischen Embryologie", also der Zucht von Embryoiden und vielleicht sogar Embryonen, sehen Forscher einen Weg, diese Grenzen zu überwinden. "Mein Ziel ist es, die menschliche Entwicklung so gut wie möglich in vitro zu modellieren", sagt etwa Ali Brivanlou von der Rockefeller University in New York.

2014 fand sein Team Beweise dafür, dass Stammzellen frühe Entwicklungsschritte von Embryonen vollführen, wenn sie die richtigen Signale erhalten. Die Forscher hatten die Idee, die Stammzellen auf mikrostrukturierten Oberflächen zusammenzupferchen. Das führte zu einem überraschenden Effekt. Die Zellen entwickelten einen sogenannten Primitivstreifen, eine Wulst aus Zellen, die auch bei zwei Wochen alten menschlichen Embryonen zu finden ist. Es handelt sich um die ersten Schritte in der Realisierung des Bauplans, der die linke und rechte Körperhälfte festlegt.

Die Embryoiden von der Rockefeller University waren nicht natürlich geformt. Sie waren dünn und flach wie ein Blatt, und auch ihr Primitivstreifen war nicht gerade, sondern kreisförmig. "Trotzdem hat es besser funktioniert als gedacht", sagt Aryeh Warmflash, Professor an der Rice University in Houston, der die Versuche in New York durchgeführt hat. "Uns wurde klar, dass Zellen darauf programmiert sind, sich zu einem Embryo zu entwickeln. Haben sie die richtige Form und Dichte und bekommen das richtige Signal, übernehmen sie und fangen an, miteinander zu reden."

Ähnliches beobachtete das Team um Jianping Fu von der University of Michigan, dem auch Shao angehörte – wenn auch fast zufällig. Die Wissenschaftler wollten wissen, ob mechanische Signale wie die von einem weichen oder klebrigen Nährmedium die Fähigkeit zur Gewebebildung verbessern können.

In einem der Versuche sollten Darmzellen angeregt werden, einen Hohlraum zu bilden. In dem Kontrollexperiment kultivierten die Wissenschaftler embryonale Stammzellen auf dieselbe Weise. "Dabei kam es zu der glücklichen Fügung", erzählt Fu. Die Stammzellen formten Sphären, die dem Anfangsstadium der Fruchtblasenbildung ähnelten.

Heute ist die synthetische Embryologie "die heiße neue Grenze in der Wissenschaft und auch der Bioethik", sagt Jonathan Kimmelman von der McGill University in Montreal, Vorsitzender des Ethikkomitees der International Society of Stem Cell Research.

Schon fordern erste Experten die Abschaffung der 14-Tage-Regel, weil sie veraltet sei. John Aach von der Harvard Medical School hält komplett neue ethische Maßstäbe für die Regulierung von Organoid-Experimenten für notwendig. Denn es ginge um ganz andere Fragen als in der klassischen Stammzellforschung: Kann ein im Labor gezüchtetes Mini-Gehirn beispielsweise Leiden empfinden? Kann die bisherige Definition eines Embryos noch gültig sein, wenn völlig neue Varianten erzeugt werden können? "Alle großen wissenschaftlichen Fortschritte zeigen die Ungenauigkeiten etablierter Konzepte auf und zwingen die Menschen dazu, sie zu überdenken", sagt Aach. Wie vermint das Gelände ist, wissen die Forscher sehr gut. Als das Team von Jianping Fu seine Ergebnisse Anfang August veröffentlichte, wählte es seine Worte äußerst sorgfältig und bemühte sich, Vergleiche mit Embryonen zu vermeiden. "Wir müssen mit dem Begriff synthetischer Menschen-Embryo vorsichtig sein, weil einige damit nicht glücklich sein werden", sagt Fu.

Für die Entscheidung, ob die Forscher weiter an ihren embryoähnlichen Geweben arbeiten dürfen, ist die Antwort auf eine Frage ausschlaggebend: Gibt es einen Nutzen? Und wenn ja, wie groß ist er? An den Konstrukten ließen sich zum Beispiel giftige Nebenwirkungen von Medikamenten testen und untersuchen, ob sie Geburtsschäden verursachen würden. Fu hofft, dass die synthetische Embryologie später auch Bioingenieuren helfen könnte, funktionsfähige menschliche Organe wachsen zu lassen. "Ich rede nicht von einem menschlichen Körper ohne Gehirn. Aber eine reelle Möglichkeit wäre die Entwicklung von Mini-Lebern oder Mini-Därmen." Aus diesen könnten sich dann voll funktionsfähige Organe entwickeln, prognostiziert Fu. Sein Labor hat bereits angefangen, Embryoide auf kreditkartengroßen Testchips wachsen zu lassen. Fu nennt es "Hochdurchsatz-Herstellung".

"Wir werden allerdings keinen kompletten menschlichen Embryo züchten", versichert Shao, der inzwischen zum Massachusetts Institute of Technology in Boston gewechselt ist. Diese Grenze zieht auch Insoo Hyun, Professor für Bioethik an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio. "Ich denke, dass die Forscher Versuche zur Klärung spezieller Fragen entwerfen sollten, anstatt alles zu modellieren", sagt Hyun. "Mein Vorschlag wäre es, nicht aufs Ganze zu gehen."

Das Büro für Wissenschaftspolitik der amerikanischen Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH) hat einen internen Bewertungsprozess für Fördermittelanträge. Dabei wird geprüft, ob "die vorgeschlagene Forschung einen Organismus erzeugen würde, der die gesetzliche Definition für ein menschliches Embryo erfüllt". Den Wissenschaftlern aus Michigan zufolge hat die Behörde bislang keine Einsprüche gegen ihre Arbeiten erhoben. Auch das deutsche Embryonenschutzgesetz würde dieser Forschung nicht entgegenstehen.

Aber ob es dabei bleibt? Schließlich liegt der ganze Sinn der Zellhaufen darin, sich auf überraschende Weise selbstorganisierend wie ein Organismus zu entwickeln. Robert Cork leitet das "Virtual Embryo Project", dessen Fotos das Shao-Team zum Identifizieren ihrer Strukturen verwendet hat. Er glaubt, dass die Forscher aus Michigan irgendwann einige der derzeit noch fehlenden Teile erzeugen können. Dann würden sie "Embryonen noch ähnlicher werden".

(bsc)