Missing Link: Warum überhaupt noch Marktkapitalismus?

Seite 2: Gegenentwurf: Zentralisierung

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Es gibt aber noch ein größeres Problem damit, statt bottom up das "top down" zentraler Verwaltung zu versuchen, das jeder Zentralisierung innewohnt: Wo sich Macht sammelt, werden Leute in Schlüsselpositionen zugreifen. Das ist immer und überall zuverlässig so. Die Akkumulation von Kapital führt zu den altbekannten Problemen des Kapitalismus, und das ist ein dezentrales System, das sich emergent in Clustern konzentriert. Ein von vornherein zentral geplantes System verschlimmert solche Probleme, und wir kennen keine wirksamen Mechanismen, das zu verhindern. Beim Kapital verteilen wir um, damit die Cluster nicht zu groß werden, und alle können sehen, wie gut das läuft. Bei zentralistischen Steuerungen sagen wir zwar "das Proletariat hat die Macht", aber der Zentralstaat bestimmt.

Mit diesen drei großen Knackpunkten können wir das beliebteste Sprichwort des sozialistisch geneigten Intellektuellen angehen: "Den wahren Sozialismus haben wir bisher noch nicht gesehen." Der "wahre" Sozialismus definiert sich letztlich als ein Sozialismus, der die drei Probleme Preisfindung, Ideensortierung und Zentralismus gelöst hätte. Dabei wird (im Nachhinein) so getan, als ob Stalin, Mao, Chávez und wie sie alle hießen, angetreten wären und die ganze Scheiße wollten, die da passierte. Nein. Wollten sie so natürlich nicht. Es ist ihnen aus emergenten Gründen passiert, und solange niemand (konkrete!) Ideen hat, wie die drei Knackpunkte in einem sozialistischen System zu lösen wären, wird es den "wahren Sozialismus" niemals geben können. Die Geschichte ist hier sehr lehrreich: Der Einwand, dieser oder jene versuchte Sozialismus sei nicht der "wahre" gewesen, kommt zuverlässig erst, wenn diese Versuche gescheitert sind. Zur Anfangszeit werden die Versuche enthusiastisch angefeuert, oft von denselben Personen.

Erinnern wir uns an den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", den Hugo Chávez in Venezuela etablieren wollte. Irgendwie sah der nach gar nicht so langer Zeit genauso aus wie der Sozialismus des 20. Jahrhunderts. Einstige Fans wandten sich ab. Doch nicht der wahre Sozialismus. Manchmal möchte man den Fans einen Staat in die Hand geben und sagen: "Hier. Mach es doch besser, wenn es so einfach ist." Wenn aber die Definition lautet "der wahre Sozialismus ist jener, der funktioniert hätte", dann sind wir im Bereich der fliegenden Schweine: denkbar, aber wie genau sollen wir das machen? Der Vergleich des "wahren Sozialismus" mit dem real existierenden Kapitalismus ist also der Vergleich einer unerreichten Utopie mit dem dreckigen Spatz in der Hand. Klar ist die Utopie schöner. Aber Träume kann man nicht essen, den Ertrag des kapitalistischen Großbauern dagegen schon. Träume kann man allerdings gut verkaufen, deshalb gibt es sehr erfolgreiche sozialistische Publikationen, während es uns schwerfällt, den hässlichen, krumm gewachsenen Kapitalismus zu lieben. Ein weiteres Experiment: Stimmen Sie einmal das Loblied auf Handel und Kapitalismus in gebildeter Runde an, wie er uns wohlhabend machte. Sie werden kaum Freunde finden.

Aber könnte man nicht einfach Märkte haben und trotzdem eine sozialistische Regierung? Natürlich. Das hat China gemacht, und die freien Märkte haben in der Folge Wohlstand eingeleitet. Wir sollten allerdings darauf hören, was die unabhängigen chinesischen Wirtschaftswissenschaftler sagen: Dieser Wohlstand kam TROTZ der zentralistischen Regierung und nicht WEGEN ihr. Das Problem der Machtkonzentration blieb erhalten, und spätestens seit den jüngsten Machtsicherungsaktionen Xi Jinpings wünschen sich, denke ich, die wenigsten Deutschen noch, in so einem Staat zu leben – obwohl das chinesische Modell eine Zeitlang hierzulande durchaus Freunde hatte. Die Zentralregierung war es nämlich nicht, die plötzlich magisch für Wohlstand sorgte, sondern die Märkte, bei denen chinesische Unternehmer endlich eine Teilhabe erarbeiten konnten, die vorher so nicht möglich war. Den sozialistischen Teil der sozialistischen Marktwirtschaft bräuchte Chinas Wohlstand nicht, das könnte ebensogut eine Demokratie westlicher Art sein. Und eine westliche Demokratie mit freier Marktwirtschaft, warum würde man die noch "Sozialismus" nennen?

Marx und Engels unterhalten sich immer noch darüber, wie es jetzt doch funktionieren könnte.

(Bild: MehmetO/Shutterstock.com)

Aber könnte man das emergente System so lassen, aber seine Ziele sozialer gestalten? Natürlich. Das macht jede "soziale Marktwirtschaft" von Deutschland bis hoch ins oft gelobte Skandinavien. Es ist sogar denkbar, selbst auf Unternehmensebene nicht mehr auf Profit zu optimieren, sondern auf andere Größen, zum Beispiel das größte Glück der größten Zahl. Christian Felber hat in seinem Buch "Gemeinwohl-Ökonomie" dargelegt, wie so etwas laufen könnte, und er tat dies deutlich konkreter als alle über-Sozialismus-nur-Schreiber. Das liegt daran, dass er real versucht, seine Ideen schrittweise umzusetzen. Erinnern wir uns daran: Die meisten Ideen scheitern im Kampf mit anderen Ideen, aber Felber und die entsprechenden Gemeinwohl-Vereine starten zumindest ernsthafte (konkrete!) Versuche, ihre Ideen zu verbreiten. Ein Versuch scheitert zwar meistens, aber eben nicht immer.

Ein Team um Tim Jackson hat modelliert, ob Wirtschaft ohne Wachstum stabilen Wohlstand ermöglichen kann und kommt auf ermutigende Hinweise (siehe sein Buch "Wohlstand ohne Wachstum, das Update"). Ich glaube generell, dass wir aus dem emergenten System der Marktwirtschaft noch nicht ansatzweise das herausgeholt haben, was an Potenzial drinsteckt. Hier gibt es sicherlich noch viel zu tun, und ich war ehrlich gesagt etwas enttäuscht, als ich für diesen Artikel über 30 Jahre nach meiner Ausbildung noch einmal nachschlug, welche tollen neuen Ideen sich wohl angesammelt haben: nicht viele. Fast alles ist alter Wein in neuen Schläuchen. Wenn man die alten Texte von Smith, Keynes, Marshall und Ricardo liest, weiß man auch heute noch Bescheid über die Grundprinzipien der Märkte. Wer Marx, Engels und Luxemburg gelesen hat, wird bei Sunkara, Bastani und Klein wenig Neues erfahren, jedoch viele bekannte abstrakt-unkonkrete Konstrukte antreffen. Am lehrreichsten ist wie immer nüchtern erzählte Geschichte. Was die russische Revolution wollte und wie sie irgendwann ungewollt im Stalinismus ankam, das kann uns heute noch eine Menge beibringen.

"Wer in einer begrenzten Welt an unbegrenztes Wachstum glaubt, ist entweder ein Idiot oder ein Ökonom." Diesen Spruch des (Ökonomen) Kenneth Boulding haben Sie sicher schon einmal gelesen. Warum glauben so viele Ökonomen daran, dass Wirtschaftswachstum noch lange anhalten kann oder sollte? Sind die alle dumm? Nein. Andere Menschen sind nie "alle dumm". Wenn sie so aussehen, liegt das meistens an einer massiv anderen Sicht auf die Welt als beim für-dumm-Halter. Ich glaube, viele Betriebswirte haben aufgrund ihres Wissens um die Macht des Handels eine sehr (vielleicht: zu) positive Aussicht auf die Zukunft der Menschheit. Warum sollten wir nicht in 200 Jahren fröhlich Asteroiden ausbaggern und wie in der Sci-Fi-Reihe "The Expanse" mit Fusionsenergie in privaten Raumschiffen durch unser Sonnensystem blockern? Wir sind doch schon vom Faustkeil zur Ausflugsrakete gekommen! Yee-Haw! Auf dem Weg dahin gibt es noch viel Armut auszulöschen, Stromleitungen durch Afrika zu legen und billige Energie zu denen zu bringen, die damit endlich richtig loslegen können, ihr Potenzial zu entfalten.

So einer Sicht hilft, dass die Pessimisten in der Geschichte so merkwürdig falsch lagen, von Malthus über Ehrlich bis hin zu Lovins. Das einflussreiche Buch "Die Grenzen des Wachstums" prognostizierte 1972, dass 1992 die Vorräte von Öl, Erdgas, Kupfer, Gold, Zinn und Zink erschöpft seien. Stattdessen gab es 1992 von allem mehr bekannte Vorräte, sodass die Preise sanken. Waren/sind diese Leute "alle dumm"? Nein. Eher im Gegenteil. Donella Meadows gehörte zu den strukturiertesten Denkern ihrer Generation. Es war/ist den Pessimisten aus ihrer Warte nur nicht verinnerlichbar, dass Menschen auch eine Ressource an und für sich sind und eben nicht nur "Geschwüre", "Parasiten" oder "Verbraucher". Um den optimistischen Ökonomen zu verstehen, hilft also vielleicht der alte Spruch: Die Steinzeit ging nicht aus Mangel an Steinen zu Ende.

Auf der Kehrseite der Medaille steht die Angst, dass wir diesmal wirklich untergehen, denn irgendwann muss unser Glück einmal enden. Das kann durchaus sein. Die Geschichte ist voll von untergegangenen menschlichen Zivilisationen, deren letzte Probleme auf beängstigende Art an unsere heutigen erinnern. Die heutige Zivilisation ist global, fossil befeuert und kann nicht mehr einfach irgendwo anders hin flüchten, wenn alles zusammenkracht. Ich brauche da nicht zu mahnen, denn Mahner stehen an jeder Ecke im Dutzend, sodass die Feeds voll von Weltuntergangsprognosen sind – vielleicht zu voll für unsere Gemütsruhe. Das Ding ist: Die Mahner haben nie ganz recht, die Optimisten aber auch nicht. Wir brauchen beide Seiten. Und deshalb lohnt es sich immer auf erstaunliche Art, sich außer den Dingen der eigenen Zugehörigkeitsgruppe auch die Ansichten jener Anderen anzuhören, die vermeintlich "alle dumm" sind. Am Ende sind wir Menschen so immer doch ganz gut vorangekommen. Ich halte es also für durchaus möglich, dass übermorgen irgendwer die zündende Idee hat, wie ein real dauerhaft funktionierender Sozialismus gebaut werden müsste oder wie bestehende Ideen durch eine Welthandelsherrscher-KI entproblematisiert werden könnten.

Gerade wurde irgendwo ein neuer Mensch geboren. Ich bin dazu geneigt, sie als wertvoll anzusehen. Vielleicht hat sie gute Ideen. Vielleicht sorgt sie durch bescheidene Arbeit dafür, dass Andere gute Ideen haben können. Ich seh' die Zukunft pink.

Vielen Dank fürs Durchhalten bis ans Ende. Nachdem wir betrachtet haben, dass die kapitalistische Marktwirtschaft uns wahrscheinlich noch länger begleitet, legen wir nächsten Sonntag nach mit einer Orientierungshilfe: Wie können normale Menschen sich bestmöglich im Kapitalismus einrichten?

(bme)