Missing Link: Warum überhaupt noch Marktkapitalismus?

Die Probleme des Kapitalismus sehen wir jeden Tag. Seine Vorteile nehmen wir als gegeben. Kann es der Kommunismus vielleicht doch besser?

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(Bild: AndriiKoval/Shutterstock.com)

Lesezeit: 19 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Die USA stehen im "Fragile States Index" zwischen Barbados und Panama, mit zuletzt steigender staatlicher Fragilität. Kürzlich hat die Coronakrise diesem unseren Hegemon westlicher Kultur stark zugesetzt, jetzt drückt die Rezession. Der Streit darüber, wie mit der Erderwärmung am sinnvollsten umgegangen werden sollte, teilt die Gesellschaft in ideologisch geprägte Lager. Die USA erlebt aber nur das, was auch Europa (in vielleicht etwas schwächerer Form) durchmacht. Viele junge Menschen sind unter diesen schwierigen Umständen der Ansicht, dass die kapitalistische Marktwirtschaft ausgedient habe. Sie entdecken für sich zum Beispiel den Sozialismus neu, der mit gerechter Verteilung, menschlichen Werten und reduzierter Ressourcenintensität lockt. Wer en détail wissen möchte, wie diese Bewegung aussieht, kann einmal vom Google-Suchbegriff "Millennial Socialism" aus über eine weite bunte Bucht paddeln. Doch bevor wir über den Sozialismus sprechen können, müssen wir das betrachten, was ist: den Kapitalismus mit Marktwirtschaft.

Woher kommt der Erfolg des Menschen als Art, woher unser Wohlstand? Aus Arbeitsteilung und billiger Energie. Der Homo Erectus hatte auch ein großes Gehirn, er nutzte Feuer, er stellte Werkzeuge her. Aber er stellte eben über eine Million Jahre immer die gleichen Werkzeuge her, er passte sich kaum mehr an als seine nächsten Artverwandten unter den Primaten. Erst der Homo Sapiens nutzte die Arbeitsteilung über die eigene Gruppe hinaus. Das hört sich banal an, ist es aber nicht. Ohne unser heutiges Niveau der Spezialisierung wäre unser Technologieniveau nicht möglich.

Als die europäischen Segler nach Tasmanien gelangten, staunten sie darüber, dass die Bevölkerung dort Technologien nicht mehr kannte, die es in Australien noch gab, obwohl ihre Vorfahren von dort kamen. Tasmanier hatten keine Knochennadeln, keine Bumerangs, keine Speerwerfer, keine Widerhakenspeere, keine Kleidung für Kälte und keine Fischfallen. Die Europäer erklärten sich das wie damals üblich damit, dass diese Menschen alle dumm waren, genetisch bedingt, aber das stimmte nicht. Sie unterschieden sich genetisch praktisch nicht von ihren Mitmenschen anderswo. Ihnen fehlte lediglich der Austausch mit mehr Menschen.

Sie können einmal das Gedankenexperiment wagen und sich vorstellen, nach einer Apokalypse sei nur noch Ihr Dorf oder Stadtteil übrig, sagen wir: 500 Personen. Was könnte so eine kleine Gemeinschaft langfristig an Technik halten? Computer nicht. Autos nicht. Zementherstellung nicht. Stahl nicht. Gummisohlen nicht. Machen wir es kurz: Ähnlich wie die Tasmanier würde die kleine Gemeinschaft innerhalb weniger Generationen technologisch zur Steinzeit zurückkehren müssen, weil die zur Stahlherstellung nötige Arbeitsaufteilung/Spezialisierung auf sehr viele Menschen nicht mehr möglich wäre. Der Austausch mit Anderen bedingt unseren Fortschritt und das Wort dazu heißt "Handel", die wahrscheinlich wichtigste Errungenschaft des Menschen. Die beschriebenen Netzwerkeffekte sind übrigens der Grund dafür, dass jeder Mensch wertvoll ist, obwohl Antihumanisten das so gern verneinen.

Handel hat eine wunderbare Eigenschaft: Er lässt alle Beteiligten besser dastehen – während alle denken, sie haben den größten Vorteil errungen. Dieser Idiot tauscht Fische gegen Eisenerz, das bei mir hinter der Hütte bergeweise herumliegt! Die erste wunderbare Eigenschaft funktioniert auch mit Wonder Woman, die alles besser kann als alle Anderen. Wenn Andere ihr Arbeit abnehmen, hat sie mehr Zeit, durch die Luft zu fliegen und Superpolizei zu spielen. Handel ist das Gegenteil eines Nullsummenspiels. Handel ist Wohlstand. Selbstversorgung ist Armut (ich weiß, dass Sie da romantische Vorstellungen hegen, die hat jeder, sie sind aber falsch). Aus einer wachsenden Weltbevölkerung im steten Austausch entstanden die antiken Imperien rund um das Mittelmeer und auf den amerikanischen Kontinenten. Im Vergleich zu den reichsten Herrschern untergegangener Reiche lebe ich aber heute in mehr Wohlstand. Ich kann, wenn ich will, essen wie Ludwig der XVI. Der alte Ludwig konnte aber nicht in ein Flugzeug steigen und auf die Bahamas jetten und dabei auf einem OLED-Bildschirm Weltwissen inhalieren. Selbst unser alter Mercedes wäre ihm ein unerreichbares Wunder an Mobilität. Wie kam das? Teil 1 der Antwort kennen Sie: Handel. Teil 2 der Antwort liegt in der erwähnten billigen Energie.

Billige Energie hat in den wohlhabendsten Ländern einen unmoralischen Touch erhalten, weil wir sie verantwortlich machen für Umweltprobleme. Das ist aber von hintenherum falsch gedacht. Ohne billige Energie hätten wir uns nicht so hoch spezialisieren können. Es gäbe die meisten Jobs schlicht nicht, weil wir mehr menschliche Arbeitskraft bräuchten, wie im Mittelalter, als es zur Unterstützung nur Tiere, Wind- und Wasserkraft gab. Damals arbeiteten fast alle täglich in der Landwirtschaft und es gab trotzdem ständig Hungersnöte. Heute holen 2 Prozent der deutschen Bevölkerung die Nahrung vom Feld für alle und ich habe mein Lebtag noch keine Hungersnot erleben müssen. Mit teurer Energie gäbe es Wohlstand nur für die wenigen Reichen. Stellen Sie sich vor, eine kWh Strom koste 100 Euro. Das saubere elektrische Kochen wäre sofort tabu für fast alle. Wir würden in die Wälder strömen und sie komplett verheizen, wie wir es schon im Mittelalter taten. Der Grund dafür, dass es in Deutschland wieder Wald gibt, liegt darin, dass wir zur Industrialisierung Kohle statt Holz verheizten, denn davon gibt es viel mehr, also wurde sie billiger als Holz. Und wer nach teurer Energie ruft, sollte zumindest wissen, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung in Armut lebt, weil er eben keinen Zugang zu billiger Energie hat. Wenn Deutschland heute zu Indien sagt "verbrennt ned so viel Kohle!" (oder zu Brasilien: "verbrennt ned so viel Wald!"), dann ist das angesichts dessen, dass wir unseren Wohlstand exakt genauso gemacht haben, eine unerträgliche Arroganz. Die bittere Pille für alle Degrowth-Ideen hat die Beschriftung: "Ohne Wohlstand gibt es keinen Umweltschutz."

Gut, denken Sie jetzt, das ist ja ganz interessant, aber was hat das mit dem Kapitalismus zu tun? Alles. Denn obwohl der Gedanke wie bei so vielen Dingen naheliegt, dass finstere Verschwörungsnetzwerke die Geschicke ganzer Systeme lenken, ist der Kapitalismus unter den beiden beschriebenen Haupttreibern passiert, als Prozess von unten (bottom up). Als in der Steinzeit mein Axthandel Schwung aufnahm, stellte ich natürlich sicher, dass ich die Produktionsmittel (einen Steinbruch) kontrollierte. Und wie viel ich verkaufen konnte (Produktion und Konsum) hing von meinem stetig angepassten Preis von nur drei Muschelbändern ab, und damit trieb ich mich selbst in den Ruin! Der australische Sozialwissenschaftler Dr. Peter Saunders hat einmal gesagt: "Niemand hat das globale kapitalistische System geplant, niemand kontrolliert es, und niemand versteht es wirklich." Genau deshalb tun wir uns so schwer damit, es durch etwas mit mehr Plan zu ersetzen. Wir versuchen es ja mit immer neuen Gesetzen, die mal besser, mal schlechter funktionieren. Aber kann man zentrale Dinge wie den Markt weglassen?

Der Markt bestimmt die Preise. Aktuelles Beispiel: Gas wird teurer. Leute weichen auf Kohle und Holz aus, die schnell ebenfalls im Preis steigen. Leute werden sparsamer, erfinden neue Effizienztechniken. All das passiert ohne Steuerung. Wer die Mechanismen genau nachlesen will, kann Friedrich Hayeks Aufsatz "The Use of Knowledge in Society" von 1945 studieren, auch heute noch. Planwirtschaften zu allen Zeiten hatten das Problem, dass sich viele Details eben schwer planen lassen, und vor 2021 wusste noch niemand, dass der Gaspreis so durch die Decke schießen würde. Für einen sinnvollen Plan braucht man verwertbare Daten. Die gibt es nicht explizit, nur implizit in den Marktpreisen. Ohne Markt fehlt das alles. Die Steuerung über Märkte und Preise ist verlustreich. Leider haben wir es aber geplant bisher nur schlechter hinbekommen.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Ein anderes, vielgehasstes, wenig verstandenes Phänomen ist der Wettbewerb. Warum ist der Staat zuverlässig so schlecht darin, Gewinner zur Förderung auszuwählen? Das liegt schlicht daran, dass die allermeisten Unternehmungen scheitern und wie bei den impliziten Informationen in den Preisen ist meistens unklar (und immer unwichtig), warum genau. Warum waren Windows-CE-Geräte kein großer Erfolg, wo doch kurz danach das iPhone durch die Decke ging? Niemand weiß es, am wenigsten Microsoft, die 2007 die 2. Generation des Zune an den Markt brachten, wo sie elend verendete. Der Wettbewerb ist ein evolutionärer Platz, auf dem sich Ideen gegen enorme Konkurrenz bewähren müssen, ein weiteres bottom-up-System. Auch dieses System hat noch kein Staat nachgebaut. Wie auch? Die USA pumpen mit dem Feuerwehrschlauch Geld auf den Evolutionskampfplatz, aber die Gewinner müssen sich dort behaupten. Sie können nicht vorher erkannt und gezielt mit Geld versorgt werden. Auch dieses System fehlte in bisherigen Planwirtschaften üblicherweise, zusammen mit Anreizen, auf diesem Platz überhaupt anzutreten, denn wenn ich mit meinem neuen iPhone (jetzt mit Stift und Windows CE!) nicht der Hecht meiner Gemeinschaft werden kann, kann ich ja auch meinen alten, sicheren Job einfach weitermachen.