Mensch oder Maschine?

Seite 2: Mensch oder Maschine?

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Kasparows Hirn besteht natürlich aus organischem Material und besitzt eine Architektur, die sich stark von der von Deep Blue unterscheidet. Und dennoch führt es doch eine stark parallelisierte Suche durch, die heuristische Techniken verwendet, um keine Zeit für unnütze Zugerwägungen zu verschwenden.

Natürlich gibt es keinen Zweifel, dass die Investitionen, die Kasparow und Deep Blue in ihr Training steckten, sich voneinander unterscheiden. Kasparow zieht gute Spielprinzipien aus vergangenen Matches heraus, so dass er sie wieder abrufen kann – und kann dadurch andere der vielfältigen Möglichkeiten ignorieren, wie das Spiel weitergehen könnte. Deep Blue musste selbst solche Züge hingegen alle durchrechnen. Kasparows Vertrauen auf diese Einsicht bedeutet auch, dass die Form seines Suchpfads, mit dessen Hilfe er nach Lösungsmustern fahndet und Züge vorausberechnet, sich von der von Deep Blue unterscheidet.

Doch dies bedeutet nicht unbedingt eine völlig andersartige Gesamtsuche nach dem nächsten Zug. Immer dann, wenn Deep Blue einen bestimmten Bereich von Zügen untersucht hatte, den er nicht weiter verfolgen wollte, konnte er dieses Wissen später erneut verwenden – genauso wie Kasparow. Ein großer Teil der analytischen Arbeit wurde von Deep Blues Designern durchgeführt, doch auch Kasparow profitierte von Hunderttausenden Mannjahren Arbeit anderer Spieler, die ihm Kollegen, Trainer und Bücher vermittelten.

Brute Force von Mensch und Maschine

In diesem Zusammenhang ist es interessant, einen Vorschlag von Bobby Fischer zu untersuchen, der einmal vorgeschlagen hat, das Schachspiel zu einer Art von rationaler Reinheit zurückzuführen. Dabei werden die Regeln des Zufalls verwendet, um die Grundaufstellung der Figuren festzulegen. Fischers Zufallsschach würde den Berg an auswendig gelernten Eröffnungen fast vollständig nutzlos machen – für Mensch wie Maschine. Nur in weniger als einem Prozent aller Fälle ließen sie sich verwenden.

Die Schachspieler wären also auf die grundlegenden Prinzipien des Spiels zurückgeworfen – schwere gestalterische Wettkampfarbeit in Echtzeit. Es ist unklar, ob diese Regeländerung eher Menschen oder Computern helfen würde. Es hängt stark davon ab, welche Art von Schachspieler vor der Maschine sitzt – und wer zuvor besonders stark auf das Auswendiglernen setzte.

Die Züge, die es beim Schach zu untersuchen gilt, sind in Echtzeit einfach zu vielfältig – selbst für einen Rechner wie Deep Blue. Genauso wie Kasparow wird er also seine Suchpfade reduzieren und jeweils ein kalkuliertes Risiko auf sich nehmen. Kasparow macht das nicht anders. Sowohl Mann als Maschine führen also große Mengen an "Brute Force"-Berechnungen durch – auf ihrer jeweils ganz eigenen "Architektur". Was wissen unsere Nervenzellen schließlich von Schach? Alles, was sie tun, muss auf die eine oder andere Art mit roher Gewalt erfolgen.

Es mag sein, dass ich hier voreilige Schlüsse ziehe, in dem ich Kasparows Hirn auf diese Art beschreibe – aber irgendwie muss man es ja. Außerdem wurde noch kein anderer Weg als dieser "rechnerische" entdeckt. Es reicht nicht aus, einfach zu sagen, dass Kasparow Dinge wie "Einsicht" und "Intuition" verwendet. Das würde nämlich bedeuten, dass Kasparow selbst nicht sagen kann, wie er diese guten Ergebnisse erzielt. Weil niemand wirklich weiß, wie Kasparows Gehirn funktioniert (nicht einmal Kasparow selbst), gibt es auch im Umkehrschluss keinen Beweis dafür, dass der Schachmeister wirklich völlig anders vorgeht als Deep Blue.