Missing Link: 25 Jahre Anonymisierung mit Tor, eine Geschichte mit Widersprüchen

Seite 4: Eine Technologie voller Widersprüche

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25 Jahre nach seiner Gründung als Militärprojekt ist Tor führend im Bereich der Darknet- und der dezentralen Anonymisierungstechnologien. Von Tag Null an war das Projekt voller seltsamer Widersprüche gewesen.

Da ist zum einen der Umstand, dass der heute wichtigste Gegenspieler staatlicher Überwachung ein Kind des US-Militärs ist. Ein Zitat aus einer Mail des NRL-Informatikers Michael Reed macht klar, worum es bei der Entwicklung ging: "Der Zweck war eine Nutzung durch Militärs und durch Geheimdienste". Es sei nicht darum gegangen, etwa Oppositionellen in autoritär regierten Ländern zu helfen.

Die Öffnung von Tor war schlicht notwendig. Man brauchte Cover-Traffic oder, wie es Roger Dingledine 2004 auf der Berliner Konferenz Wizards of OS ausdrückte: "Die US-Regierung kann nicht ein Anonymisierungssystem für jederman betreiben und es dann nur selbst nutzen. Jedes Mal, wenn es eine Verbindung gibt, würden die Leute dann sagen: 'Oh, da ist noch ein CIA-Agent, der sich meine Webseite anschaut.' Wenn sie die einzigen sind, die das Netzwerk nutzen." (Quelle:Aufzeichnung des Dingledine-Vortrags, ab Minute 5:03).

Karte zum Länderanteil am Tor-Datenverkehr

(Bild: Metrics.torproject.org)

Formal ist das Tor Project seit seiner Gründung unabhängig, finanziell ist es jedoch bis heute eng mit dem US-Regierungsapparat verwoben. Das ist der größte Widerspruch: Der wichtigste Gegenspieler staatlicher Überwachung lässt sich von der Regierung finanzieren, die eines der unverschämtesten Überwachungsprogramme der Welt betreibt und dessen technischer Geheimdienst NSA an der Kompromittierung von Tor arbeitet und Tor, laut Snowden-Leaks, abgrundtief hasst ("Tor stinkt").

Bis 2015 speiste sich das Tor-Budget fast ausschließlich aus US-amerikanischen Regierungs- und Behördenquellen. Die Zahlungen kamen vor allem von vier Geldgebern:

  • dem US-Verteidigungsministerium,
  • dem US-Außenministerium sowie
  • Radio Free Asia (RFA), einem staatlicher Auslandssender, der vom US-Kongress finanziert wird und
  • der National Science Foundation (NSF), einer ebenfalls vom Kongress finanzierten Behörde zur universitären Forschungsförderung.

Schon länger heißt es beim Tor Project, dass man die finanzielle Basis diversifizieren wolle. Das Vorhaben macht aber nur langsam Fortschritte. Noch 2015 lag der Anteil von US-Staatsgeldern bei 85 Prozent, 2016 waren es 76 Prozent und 2017 lag der Wert mit 51 Prozent bei etwas mehr als der Hälfte.

Gerade hat das Tor Project zwei neue Finanzberichte veröffentlicht. Deren Zahlen lassen sich nicht nahtlos vergleichen. Ab 2018 entspricht der Berichtszeitraum nicht mehr, wie vorher, einem Kalenderjahr, sondern bezieht sich jeweils auf die Monate Juli bis Juni. Der erste der beiden Berichte umfasst deshalb nur sechs (Januar bis Juni 2018), der zweite hingegen wieder zwölf Monate. Der Bericht für den Zeitraum von Juli 2018 bis Juni 2019 zeigt: Auf seinen Weg hin zu finanzieller Unabhängigkeit hat die Organisation einen Meilenstein erreicht.

Die Einnahmen lagen bei etwa 4,9 Millionen Dollar und stammten nur noch zu 39,8 Prozent aus US-Regierungs- und Behördenquellen. Vertreten waren die üblich verdächtigen Geldgeber:

  • 1.028.727 US-Dollar (21,1 Prozent) kamen vom Verteidigungsministerium, über die Forschungsbehörde DARPA, verteilt als Pass-Through-Mittel über die Universität Pennsylvania und Georgestown.
  • 466.999 US-Dollar (9,6 Prozent) stammten vom Außenministerium über das für Menschenrechtsfragen zuständige Bureau of Democracy, Human Rights and Labor Affairs (DRL).
  • 277.212 US-Dollar (5,7 Prozent) steuerte der US-Auslandssender Radio Free Asia über seine Open-Source-Förder-Tochter Open Technology Fund bei.
  • 163.919 (3,4 Prozent) kamen von der National Science Foundation.

Die restlichen 60 Prozent speisten sich unter anderem aus folgenden Quellen:

  • 749.031 US-Dollar (15,4 Prozent) kamen von der Swedish International Development Cooperation Agency, einer Behörde des schwedischen Außenministeriums,
  • 652.500 US-Dollar (13,4 Prozent) von der Mozilla Foundation, davon 195.000 über das Mozilla-Förderprogramm Mozilla Open Source Support (MOSS),
  • 300.000 US-Dollar (6,2 Prozent) von der US-amerikanischen Philantropen-Stiftung Media Democracy Fund sowie
  • 200.000 (4,1 Prozent) von der Organisation Handshake Open Source Pledge (300T), die Open-Source-Projekte fördert.

An Einzelspenden kamen 577.170 US-Dollar (11,9 Prozent) zusammen.

Auf Kritik an der prominenten Rolle der US-Regierung als Geldgeber reagiert das Tor Project traditionell dünnhäutig. Als der US-Journalist Yasha Levine 2014 die finanzielle Verbindung in einem Artikel problematisierte, zog das einen Shitstorm nach sich, an dem sich auch Angestellte des Tor Projects beteiligten.

Im Blogpost, der die Veröffentlichung der letzten beiden Tor-Jahresberichte flankiert, verwehrt sich Dingledine wie in den Vorjahren vorsorglich gegen den Verdacht, die Organisation könnte als Gegenleistung Hintertüren oder sonstige Wunsch-Funktionen in Tor einbauen lassen. Es komme schlicht nicht vor, dass irgendwer sage: "Ich bezahle euch X Dollar, damit ihr Y macht."