Missing Link: 25 Jahre Anonymisierung mit Tor, eine Geschichte mit Widersprüchen

1995 begann die Arbeit am widersprüchlichsten Projekt des nicht-kommerziellen Internets: an Tor. Ein Blick die Geschichte des großen Anonymisierungs-Projekts.

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(Bild: Shutterstock/Irina Anosova)

Lesezeit: 19 Min.
Von
  • Stefan Mey
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Es ist, wie es ist: Am Anfang war das Militär. Tor ist ein Kind militärischer Forschung. Heute gehört die Anonymisierungstechnologie zum Kern-Portfolio digitaler Selbstverteidigung und gilt als wichtigster Gegenspieler staatlicher Überwachung. Während die Infrastruktur maßgeblich von der deutschen IT-Community gestellt wird, läuft die Finanzierung traditionell über Fördertöpfe der US-Regierung. Erst mit 25 Jahren ist Tor endlich erwachsen geworden, zumindest ein bisschen. Wie ein gerade vorgestellter Jahresbericht zeigt, stammt erstmals weniger als die Hälfte des Budgets von der US-Regierung. Tor steckte von Anfang an voller Widersprüche.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Erfunden hat er es nicht, aber er hat das Prinzip weltweit bekannt gemacht: das Onion-Routing. Dabei versteckt eine Software die Ursprungs- und Ziel-IP-Adressen von Datenpaketen unter mehreren Schichten – so wie sich der Kern einer Zwiebel unter mehreren Schalen verbirgt. Im Jahr 1995 begann der Mathematiker Paul Syverson die Arbeit an einer eigenen Umsetzung des Onion-Routings, aus der mit Tor das wichtigste Werkzeug zur Umgehung von Überwachung und Zensur werden würde.

Syverson war kein kryptoanarchistischer Hacker gewesen. Er war und ist noch heute angestellter Mathematiker in der Abteilung "High Assurance Computer Systems" des Naval Research Laboratorys (NRL), eines Forschungsinstituts der US-Marine. Auf seiner Webseite, die auch optisch den Geist der frühen Internet-Jahre atmet, hat Syverson eine Chronologie der ersten Jahre geschrieben.

Irgendwann im November oder Dezember 1995 habe es erste Überlegungen zu einem Onion-Routing-Projekt gegeben, erinnert sich Syverson im Gespräch mit heise online. 1996 präsentierte er auf einem Workshop der Universität Cambridge ein Konzept-Papier, das er zusammen mit den NRL-Kollegen David Goldschlag und Michael Reed verfasst hatte: Hiding Routing Information.

Im gleichen Jahr setzen sie einen Software-Prototypen auf, der Datenverkehr auf einem NRL-Rechner über fünf simulierte Verschleierungsknoten schickte. 1998 folgte ein zweiter Prototyp mit 13 Knoten. Ab 1999 musste die Entwicklung offiziell pausieren. Das Naval Research Laboratory wollte kein weiteres Geld geben und die meisten Team-Mitglieder hatten das NRL verlassen.

Die Arbeit ging trotzdem weiter. Im Sommer 2000 wurde ein Patent für Tor ausgestellt und Syverson machte eine Begegnung, die, wie er schreibt, den Samen für die zukünftige Entwicklung legen würde. Auf einem Workshop der Universität Berkeley lernte er Roger Dingledine kennen, heute die sichtbarste Figur hinter Tor. Der Absolvent des Massachusetts Institute of Technology (MIT) hatte in seiner Masterarbeit ein anonymes Datenspeichersystem namens Free Haven entwickelt. Dingledine schloss sich Tor an. Hinzu kam dessen Studienkollege Nick Mathewson, Entwickler von Mixminion, einem Remailer-Dienst zur Anonymisierung von E-Mails.