Missing Link: Von Geheimnissen und Whistleblowing - 50 Jahre Pentagon Papers

Seite 2: "Die Lüge in der Politik"

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Bis zum Projektabschluss im Januar 1969 wurden 3000 Seiten von der Vietnam Task Force produziert und durch 4000 Seiten regierungsamtlicher Dokumente ergänzt, was sich zu 47 Bänden Material addierte. Insgesamt wurden von dem gesamten Satz der Pentagon Papers 15 Exemplare hergestellt und als geheim und "sensitive" klassifiziert, eine Geheimhaltungsstufe, die es gar nicht gab. Wer die Dokumente aus heutiger Sicht liest, wird mit Verwunderung feststellen können, wie weit sich die Experten in ihren Analysen von der Wirklichkeit vor Ort entfernen konnten.

Vielfach wird in den Denkmustern des Kalten Krieges oder des Zweiten Weltkrieges argumentiert. So gibt es einen Bericht, der von einer sinosowjetischen Bedrohung spricht und die Differenzen zwischen der UdSSR und China völlig außer Acht lässt. Ein anderer schlägt vor, die Industrieanlagen in Nordvietnam zu bombardieren wie seinerzeit die in Hitlerdeutschland, ohne zu erwähnen, dass Nordvietnam keine nennenswerte Industrie-Infrastruktur hatte.

Hannah Arendt, die als eine der Ersten mit dem Text "Die Lüge in der Politik" die Pentagon Papers analysierte, notierte fassungslos: "Liest man die Memoranden, die Alternativvorschläge, die Szenarien und wie bei geplanten Aktionen potentielle Risiken mit potentiellen Ergebnissen verglichen werden, so hat man manchmal den Eindruck, dass Südostasien von einem Computer und nicht von Menschen, die Entscheidungen treffen, überfallen worden ist. Die Problem-Löser urteilten nicht, sie rechneten /.../" Hannah Arendt verglich die Analysen mit den ihr zugänglichen Berichten, die vom CIA und seinem Agentennetz produziert wurden. Sie musste erstaunt feststellen, wie exakt die CIA-Annahmen im Vergleich zu den Analysen und Berechnungen von Eintrittswahrscheinlichkeiten in den Pentagon Papers ausfielen.

Neil Sheehan, der die Veröffentlichung der Papiere in der New York Times begleitete und kommentierte, hatte gleich mit dem ersten Text seine Leser auf die Rolle der professionellen "Problem-Solver" aufmerksam gemacht, die mit Spieltheorien und Systemanalysen versuchten, die Probleme der US-amerikanischen Außenpolitik zu lösen. Eine wichtige Rolle spielte das Equilibrium Point Theorem, das John Nash bei seiner Arbeit am RAND entwickelt hatte. Sheehan kritisierte, dass sie Politik mit einer Spielart der Public Relations verwechselten. Welche Rolle Sheehan bei der Veröffentlichung der Pentagon Papers spielte, ist erst seit Kurzem bekannt.

Er hatte seine Geschichte 2015 Journalisten der New York Times erzählt, als er an Alzheimer erkrankte. Das war mit der Auflage verbunden, dass sie erst nach seinem Tod veröffentlicht wird. Sheehan starb im Januar 2021. Der Whistleblower Daniel Ellsberg war frühzeitig auf den Kriegsreporter Sheehan gestoßen und konnte ihn für die Papiere interessieren. Ellsberg wollte zwar, dass Sheehan das Material sichtete, untersagte aber das Kopieren. Als Ellsberg einige Tage in Urlaub fuhr, überließ er Sheehan den Schlüssel zu der Wohnung, in der die Papiere lagerten. Sheehan rief seine Frau zu Hilfe und gemeinsam schafften sie es, die Papiere zu fotokopieren, argwöhnisch beäugt von den Inhabern der Copyshops, in denen überhitzte Maschinen den Geist aufgaben.

Sie kauften mehrere Koffer und buchten für den Rückflug zusätzliche Sitze im Flugzeug, damit die Koffer niemals unbeaufsichtigt reisten. Als die New York Times mit der Veröffentlichung der Papiere begann, erkannte Ellsberg, dass er von Sheehan hinters Licht geführt worden war. Er erkannte aber auch, das Sheehan richtig gehandelt hatte, denn nun konnte ein Team der New York Times die Papiere sichten und in Washington ein weiteres Team der Washington Post mit der Arbeit anfangen. Die Washington Post hatte zunächst kein Interesse an den Papieren gezeigt. Fünfzig Jahre später würdigte Ellsberg den "Verrat" von Sheehan.

Wer zunächst auch kein Interesse hatte, war der amtierende US-Präsident Richard Nixon. Was die Papiere beschrieben, geschah schließlich in der Regierungszeit seines Vorgängers Lyndon B. Johnson. Es war der nationale Sicherheitsberater Henry Kissinger, der Nixon drängte, sofort etwas gegen die Veröffentlichung zu unternehmen. Kissinger befürchtete, dass Ellsberg als Whistleblower über weitere, aktuelle Papiere verfügte, etwa über die streng geheime Operation MENU, bei der die US-Luftwaffe auf Befehl Nixons Kambodscha bombardierte. Das war zwar nicht der Fall, aber Nixons Reaktion war heftig.

Die Gerichtsmaschinerie lief auf zwei Ebenen. Anthony Russo und Daniel Ellsberg wurden nach dem Espionage Act von 1917 beschuldigt, die USA verraten zu haben, wie das aktuell im Fall von Julian Assange geschehen ist. Die New York Times, die drei Artikel mit den Pentagon Papers gedruckt hatte, sollte gezwungen werden, den Abdruck zu stoppen. Dieser Teil der Aktion wanderte in Windeseile bis vor den höchsten Gerichtshof, der die Presse mit 6:3 Richterstimmen in Schutz nahm: Nur eine freie, unbehindert agierende Presse kann wirksam Täuschungen durch die Regierung aufdecken. Und über allen Verantwortlichkeiten einer freien Presse steht die Pflicht, jeglichen Teil der Regierung daran zu hindern, die Menschen zu betrügen und in ferne Länder zu schicken, um an fremdländischen Krankheiten und fremdländischen Kugeln und Granaten zu sterben.