Missing Link: Agilität in Zeiten von Corona

Seite 2: Distributed Scrum

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Unternehmen stellten sich schnell auf die neue Situation ein, und auch die agilen Gurus hatten sogleich ein Update parat. Bereits im Februar 2020, also in der Anfangsphase der Pandemie, als zumindest in den USA Corona noch weit weg war – der erste Corona-Todesfall in den USA datiert vom 29. Februar –, gab JJ Sutherland, Sohn des gleichnamigen Scrum-Begründers, Hinweise für das agile Arbeiten in Pandemiezeiten und hatte auch einen griffigen Slogan dafür parat: "distribuierte Kollaboration". Da die Teammitglieder nun weit verstreut und vereinzelt agierten, sei es umso wichtiger, dass der Zugang auf dieselben Tools für alle gewährleistet sei, alle erledigten und ausstehenden Aufgaben müssten ohne Zeitverzögerung für alle zugänglich sein, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Ebenso steige die Bedeutung digitaler Werkzeuge, allen voran Kommunikationstools. Präzision und Vollständigkeit in der Beschreibung der Backlog-Elemente werde noch wichtiger, wenn die Teams verteilt arbeiten, so JJ Sutherland: "Das Team muss wissen, was der Product Owner will und warum."

Von digitalen Technologien war im Agilen Manifest noch gar nicht die Rede, jetzt rücken sie immer mehr ins Zentrum des agilen Arbeitsalltags. Über den Globus verteilte Teams gibt es im internationalen Softwaregeschäft allerdings schon länger. Eine Veröffentlichung aus dem Jahre 2009, an der der Scrum-Mitbegründer Sutherland selbst beteiligt war, beschreibt die Erfolge einer Softwarefirma, die zwischen den Niederlanden und Indien (PDF) mit distribuiertem Fern-Scrum gute Erfahrungen machte. Sie hatten das Scrum-Framework an die Anforderung räumlich verteilter und gleichzeitig outgesourcter Teams in verschiedenen Zeitzonen angepasst, und das Modell erfolgreich skalieren können.

Der Vergleich mit dem Paradebeispiel dezentraler Systeme, dem Hauptgaranten für die Dynamik des Digitalen Kapitalismus, drängt sich auf: dem Internet. Die Topologie des Internets – ein dezentrales Netzwerk aus Servern, das einen Atomkrieg überleben und funktionsfähig bleiben kann, wird übertragen auf die Arbeitsorganisation: Distribuierte Teams überleben bzw. bleiben produktiv trotz Coronapandemie, trotz Ausgangssperren und Ausnahmezustand – der Resilienz des Internets, kybernetischer Selbststeuerung und agiler Arbeitsmethoden sei Dank. Von Präsenz, körperlicher Nähe, Zusammenstehen beim Daily Standup Meeting, von der Benutzung analoger Klebezettel aus der Anfangszeit von Scrum ist nicht mehr die Rede – was bleibt, ist ein digital vermitteltes weltweit räumlich und zeitlich verteiltes Netz an ausgelagerten, vereinzelten, und doch vernetzten Geistesarbeitern.

"Unternehmen werden erkennen, dass sie viel anfälliger sind als gedacht und mit selbstorganisierten, objektiven und ergebnisorientierten digitalen Arbeitsmodellen agiler auf zukünftige Herausforderungen reagieren müssen", lautet die Einschätzung der Unternehmensberaterin Alejandra Martínez. Sie spricht von einem erzwungenen Digitalisierungsschub, der jedoch "eine bessere Rückverfolgbarkeit der Arbeit" sowie die Installierung von "effizienteren Modellen" zur Folge hat. Martínez, die auch Direktorin der spanischen Fraunhofer-Abteilung BICG ist, setzt auf die Werte und Prinzipien der Agilität: "Übermäßige Kontrolle", konstatiert sie, "ist nicht mehr sinnvoll", stattdessen gewinnen "Resilienz, Flexibilität, Selbstorganisation, die Abschaffung von bürokratischen, innenarchitektonischen und sozialen Hürden, Vertrauen und Empathie mit einer klaren Verteilung der Autorität" an Bedeutung. Der Trend zum agilen Unternehmen hat starken Impetus erhalten, gleichzeitig deutet sich ein digital divide auch bei Organisationen an: Die Gefahr, auf der Strecke zu bleiben, hat sich verschärft.

Es kann keine Rückkehr zur alten Normalität geben, heißt es. Das gilt sicher für einmal etablierte, distribuierte, virtuell vermittelte Arbeitsformen; viele Organisationen werden sie beibehalten wollen, zu attraktiv ist das Potenzial für die Externalisierung von Kosten und Personal gleichermaßen – den Stuhl, auf dem die Mitarbeiter sitzen, haben sie schließlich selbst bei IKEA gekauft. Unternehmen stellen fest, dass der Krankenstand nachlässt – wer das Haus kaum noch verlässt, bekommt auch seltener eine Erkältung.