Missing Link: Antriebswende – Warum wir eine zweite Elektrifizierung brauchen

Batteriebetriebene Fahrzeuge gelten für die einen als ökologische Heilsbringer, für die anderen als Perpetuierung des Automobilismus.

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Missing Link: Antriebswende – Warum wir eine zweite Elektrifizierung brauchen

(Bild: guteksk7/Shutterstock.com)

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Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Bald fünf Jahre ist es her, dass der Dieselskandal ans Licht kam. Die besten Motorenbauer und Verbrenner-Ingenieure der Welt – zumindest in deren Selbstwahrnehmung – sahen keine andere Möglichkeit mehr, als Betrugssoftware zu programmieren, um Schadstoffgrenzwerte bei ihren Fahrzeugen einhalten zu können. Nach 140 Jahren scheint der Verbrennungsmotor technologisch weitgehend ausgereizt zu sein, ein klimaneutraler Verkehr ist mit ihnen sowieso prinzipiell nicht möglich.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Die meisten Länder planen daher für eine Zeit nach dem Verbrennungsmotor, Norwegen geht voran und hat 2025 als Ausstiegsdatum festgelegt, viele kleine Länder wie Dänemark nennen 2030 als Ziel, Großbritannien peilt 2035 an, Frankreich und Spanien sind 2040 soweit. Eine aktuelle Übersicht des International Council on Clean Transportation (ICCT) findet sich hier.

Auch viele Städte planen für eine Zukunft, in der nur noch Null-Emissions-Fahrzeuge zirkulieren dürfen: Barcelona, Madrid und Paris sind bereits erste Schritt in diese Richtung gegangen, in Mailand ist 2027 Schluss. Auch die Baleareninseln gehören zu den Vorreitern: Hier gilt ab 2025 bereits ein flächendeckendes Fahrverbot für Dieselfahrzeuge.

Auch die Klimabewegung nimmt zunehmend den Verkehrssektor ins Visier und hat den Ausstieg aus dem Verbrenner ins Zentrum ihres Kampfs für einen postfossilen Umbau der Gesellschaft gerückt. Der Aufruf des breiten Bündnisses #aussteigen gegen die Internationale Automobil Ausstellung (IAA) in Frankfurt im Herbst 2019 nannte als erste von sieben Forderungen zur Verkehrswende den "sofortigen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor", gefolgt von der nach einem "klimaneutralen Verkehr bis 2035“– eine klare bewegungspolitische Prioritätensetzung.

Im Juni kam dann die nächste Überraschung: das Corona-Konjunkturpaket der Bundesregierung sah explizit keine Kaufprämie für Verbrenner vor, obwohl die Autoindustrie und die IG Metall kräftig dafür geworben bzw. die üblichen Horrorszenarien ausgemalt hatten – Arbeitsplatzverluste, Mittelalter, Licht aus. Außer den Vertretern des fossilen Kapitals, einzelnen Ministerpräsidenten und natürlich der AFD wollte das zuletzt keine Fürsprecher– auch die Mär vom sauberen Verbrenner glaubt niemand mehr.

Auch wenn immer wieder von einer "Elektro-Strategie der Konzerne“ die Rede ist, die Autoindustrie hat ganz andere Pläne für 2030: Eine Einführung elektrischer Fahrzeuge in homöopathischer Dosierung ist ihr Ziel, gerade so viel, dass die Flottengrenzwerte für die Gesamtunternehmen, die die Europäische Union vorschreibt, eingehalten werden – sonst drohen empfindliche Strafzahlungen.

Der ehemalige Chef des Lobbyverbandes VDA, Bernhard Mattes, äußerte sich im Sommer letzten Jahres folgendermaßen: "Auf vielen Märkten werden hocheffiziente Verbrenner noch lange einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten.“ Selbst bei optimistischer Entwicklung der E-Automobilität seien in elf Jahren immer noch mindestens vierzig Millionen Verbrenner in Deutschland unterwegs, ergänzte er im Interview mit der autozeitung.

Da verwundert es nicht weiter, dass sich der Bestand an batteriebetriebenen Fahrzeugen in Deutschland kläglich ausnimmt, gerade einmal 136.600 Elektroautos sind bei uns zugelassen (Stand März 2020), meilenweit entfernt von der einen Million Elektroautos, die Angela Merkel mal bis 2020 bei uns auf den Straßen sehen wollte. Gleichzeitig erreichte der Bestand an Personenkraftwagen in Deutschland im Januar 2020 mit rund 47,7 Millionen Fahrzeugen sein historisches Allzeithoch: Auf 350 Verbrenner kommt also gerade ein E-Auto.

Selbst wenn sie wollten, könnten die deutschen Hersteller keine konkurrenzfähigen E-Autos in nennenswerten Stückzahlen anbieten. Nur ein Viertel der Modelle, die für eine Förderung durch die Elektroauto-Kaufprämie, wie sie im Corona-Paket der Bundesregierung vorgesehen ist, derzeit in Frage kommen, kommen aus Deutschland. Diese gilt nur für Fahrzeuge, die weniger als 40.000 Euro kosten – daher bestimmen neben Tesla französische und koreanische Hersteller den Markt für relative kleine und günstige E-Autos.

BMW war mit seinem i3 in den letzten Jahren die Ausnahme, schaffte aber keinen Durchbruch; VW versucht ab Herbst mit dem ID3 erstmals überhaupt ein massenmarktfähiges Elektroauto auf den Markt zu bringen, hat aber Schwierigkeiten, die Software zum Laufen zu bringen. VW-Chef Diess ist der einzige, der aus dieser Phalanx ausscheren möchte, dafür sogar den Bruch mit dem VDA riskierte. Diess wurde gerade zurückgepfiffen und teilentmachtet vom mächtigen IG Metall-Mann und VW-Gesamtbetriebsratschef Bernd Osterloh. Die Tageszeitung Die Welt hält ihn gar für den "wahren Herrscher über den Volkswagen-Konzern" und fasst dessen Haltung zum Klima folgendermaßen zusammen: Klimapolitik gefährdet Industriestandort.

Selbst bei Sachfragen wie der Ökobilanz wird mit harten Bandagen gekämpft. Die Verbrenner-Lobby ist durchaus diskursmächtig und operiert mit fragwürdigen Zahlen, wie wir das auch von der Kohle- oder die Tabakindustrie gewohnt sind. In einer Stellungnahme des Verbandes der Deutschen Ingenieure zum Corona-Konjunkturpaket der Bundesregierung bemängelt Simon Jäck, "dass bei unserem Strom-Mix in Deutschland heute und in den folgenden Jahren, die Elektrofahrzeuge zumindest die nächsten zehn Jahre hinsichtlich ihrer CO2-Emissionen mehr Schaden anrichten als die Verbrennungsmotoren.“

Die renommierte Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Claudia Kemfert äußerte bereits 2017 im Interview mit dem Autor: "Es ist offensichtlich, dass Elektroautos mit gezielten Kampagnen und PR schlecht geredet werden sollen – wie immer, wenn das fossile Kapital die Vergangenheit möglichst lange konservieren will – das kennen wir von der Energiebranche zur Genüge."

Wichtiges Kriterium für die Evaluierung der Ökobilanz von E-Antrieben – aber bei weitem nicht das einzige – ist die Lebenszyklus-Analyse der CO2-Emissionen eines Fahrzeugs (LCA). Hierbei müssen viele Faktoren berücksichtigt werden, neben Betrieb auch Produktion und Recycling, bis hin zum Energieaufwand für Förderung und Transport von Rohstoffen für Komponenten wie z.B. Batterien.

Die aktuelle T&E-Studie "How Clean Are Electric Cars?“ zur Lebenszyklus-Analyse von Elektroautos kommt zum Ergebnis, "dass Elektroautos in Europa im Durchschnitt fast dreimal weniger CO2 ausstoßen als vergleichbare Benzin- / Dieselautos.“ Sie haben verschiedene Szenarien berechnet, die die Herkunft des Stroms berücksichtigen. Selbst im schlimmsten Fall – ein Fahrzeug mit einer in China produzierten und in Polen gefahrenen Batterie – generiert 22% weniger CO2 als Diesel und 28% weniger als Benzin. Im besten Fall – ein Fahrzeug mit einer in Schweden produzierten und gefahrenen Batterie – generiert 80% weniger als Diesel und Benzin. Anhand dieser Zahlen wird deutlich, wie wichtig der Kampf für erneuerbare Energien ist, mit ihnen steht und fällt die Bilanz der Elektromobilität.

Die Autorinnen erlauben sich abschließend – für wissenschaftliche Community höchst ungewöhnlich – ihrer Verwunderung über die Debatte Ausdruck zu verleihen: "Während sich viele Forscher auf veraltete Daten oder Beweise verlassen müssen, sind einige Ökobilanzen (oder deren Interpretation) absichtlich irreführend.“ Hier wird deutlich, wie umkämpft dieses Feld ist und Fake News an der Tagesordnung sind in dem erbitterten Versuch der fossilen Industrie, den historischen Trend so lange wie möglich aufzuhalten.

Benziner und Diesel stoßen durchschnittlich dreimal mehr CO2 aus, als ein europäisches Elektro-Auto.

(Bild: T&E-Studie)

Ökobilanzen sind zwar wichtig, die Frage, welche Rolle das elektrisch betriebene Privatauto haben soll, kann nicht von dieser allein abhängen. Eine reine "Antriebswende“ – die Sozialökonomin Katharina Manderscheid von der Uni Hamburg definiert sie in einem (online kostenlos) erhältlichen Sammelband zur Elektromobilität als "Substitution des fossilen Treibstoffes sowie die Reduktion der CO2-Emissionen während des Fahrzeugbetriebes" allein ist weder ökologisch noch verkehrspolitisch wünschenswert.

Es geht demgegenüber bei der Debatte um die Zukunft der Mobilität um politische und normative Fragen. Es geht mindestens auch um die "Verkehrswende, die insbesondere den privaten Autoverkehr durch andere Modi reduziert respektive ersetzt", aber, Verkehr nicht unbedingt reduzieren, nur anders organisieren will, so Manderscheid weiter. Als "Mobilitätswende“ bezeichnet sie wiederum eine noch umfassendere Transformation, die ein erweitertes Verständnis von Mobilität beinhaltet, und darauf abzielt, Verkehr generell zu reduzieren, und "das private Auto als hegemoniales Mobilitätsmedium" zu überwinden.

Ein aktuelles Manifest für eine solche umfassende Mobilitätswende plädiert für ein "weg vom Auto und hin zu einer Mobilität, bei der der Mensch, Fußwege, das Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel im Zentrum stehen.“ In ihrem Streben nach einer radikalen Verkehrswende lassen die Autoren Waßmuth und Wolf aber kein gutes Haar am Elektroauto. Es drohe einfach eine neue Konsumspirale, diesmal mit angeblich sauberen Autos. Kann das E-Auto also überhaupt Bestandteil einer Verkehrswende sein? Ist es Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Selbst wenn in den nächsten Jahren eine nennenswerte Reduzierung der über 47 Millionen Fahrzeuge auf unseren Straßen gelänge – mehr als auf dem gesamten afrikanischen Kontinent unterwegs sind – wie sollen dann die restlichen angetrieben sein? Diese Frage allein macht deutlich, dass ein nicht-fossiler Verkehr ohne Elektrofahrzeuge schier nicht denkbar ist.

Doch es gibt Hoffnung, dass die Elektrifizierung der Fahrzeuge über die Effekte einer reinen Antriebswende hinausweisen. So gelten zwar E-Autos in der öffentlichen Wahrnehmung als besonders schwer. Und tatsächlich kommt z.B. das Tesla Model X auf stolze 2,4 Tonnen. Das liegt aber nicht nur an der mit 100 kWh überdimensionierten Batterie, sondern daran, dass es sich um einen SUV handelt. Verbrenner-SUVs rangieren in der gleichen unsinnigen Gewichtsklasse.

Doch die tatsächlich gekauften E-Autos unterscheiden sich wohltuend von den in der Werbung präsenten besonders leistungsstarken teuren Elektroautos. "Keine E-Raketen mit utopischen Preisen prägen das Tabellen-Bild, sondern bodenständige, leistbare Vernunftmodelle“, schreibt das Wirtschaftsmagazin Capital. Mit Smart Fortwo, VW E-Golf, Tesla Model 3, BMW i3 und Renault Zoe führen relativ kleine Modelle die Tabelle aktueller Zulassungszahlen an – allesamt trotz Batterie auch nicht schwerer als ein Golf Diesel.

Auch die Beschränkung der Förderung für den Kauf von E-Autos bis 40.000 Euro im Corona-Paket der Bundesregierung bewirkt einen Steuerungsimpuls in Richtung kleinerer Fahrzeuge. Die KFZ-Steuer, Fahrverbote, Bonus-Malus-Regelungen – es gibt eine Vielzahl Mechanismen, die die Elektrifizierung des privaten Verkehrs in einigermaßen vernünftige Bahnen lenken könnten, beispielsweise nach Gewicht und Leistung gestaffelte Gebühren und Fahrbeschränkungen.

Wenn vom Umstieg auf Elektromobilität die Rede ist, geht es meist darum, private Diesel- und Benzinfahrzeuge durch elektrische zu ersetzen. Auch wenn E-Autos legitimer Bestandteil eines elektrifizierten Verkehrs der Zukunft sind: An die Fernbahn, S-, U- oder Straßenbahnen, die ja streng genommen Paradebeispiele elektromobiler Transportmittel sind, wird in diesem Zusammenhang häufig nicht gedacht. Damit verengt sich der Blick auf die Elektroautomobilität.

Neben der Elektrifizierung des motorisieren Individualverkehrs, die bislang im Vordergrund steht, steht auch die Re-Elektrifizierung des öffentlichen Verkehrs an. Es geht also bei der Elektrifizierung des straßengebundenen Verkehrs um viel mehr als nur die Privat-Pkw: Lieferverkehr, der ÖPNV, Taxis, Busse, LKW – hier steht eine "zweiten Elektrifizierung" des Verkehrs an, auch der nicht-private Straßenverkehr – Busse, Taxis, LKW, Transporter, motorisierte Zweiräder – ist fast zur Gänze fossil betrieben. Eine Antriebswende allein könnte schon aufgrund der Infrastrukturen, die dafür nötig sind, der Verknüpfung mit dem existierenden Stromnetz bis hin zu Effekten auf allen Ebenen, bereits intrinsisch einen Drift in Richtung Verkehrswende hat.

Kommt die Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs in Gang, inklusive des Aufbaus der dafür nötigen Infrastruktur, wird auch der restliche Straßenverkehr nachziehen. Eine Vielzahl von E-Mobilen, vom Lastenrad bis zum Lkw, warten nur darauf, zum Einsatz zu kommen, sobald die nötigen Anreize gegeben sind. Neue Akteure treten auf den Plan, so planen etwa IKEA und diverse Baumärkte Ladesäulen vor ihren Geschäften. Genauso warten Logistikunternehmen und Verkehrsbetriebe nur auf gesetzliche Vorgaben, um mit der Elektrifizierung ihrer Flotten ernst zu machen.

Die Deutsche Bahn fahre im Fernverkehr mit 100% Ökostrom – so die grüne Botschaft aus der Konzernzentrale. Dabei sind nur "knapp 60 Prozent des Bahnstroms "Ökostrom". Rund 30 Prozent sind Strom aus fossilen Quellen und knapp 10 Prozent sind Atomstrom“, wie der Bahn-Kenner Winfried Wolf schreibt. Nur 60 Prozent des Streckennetzes sind überhaupt elektrifiziert, hat die "Allianz pro Schiene“ ausgerechnet, zum Vergleich: in der Schweiz sind es 100 %.

Auch bei der Bahn ist also eine Antriebswende mehr als überfällig, Bahn-Experte: "Selbst ein größerer Teil des Schienenpersonenfernverkehrs wird heute noch mit Dieseltriebfahrzeugen betrieben, weil wichtige Fernverkehrsstrecken wie Hamburg – Kopenhagen, Lindau – München, Stuttgart – Zürich nicht elektrifiziert sind. Schlimmer noch: Die Mehrzahl der Loks der DB-Tochter für den Schienengüterverkehr, DB Cargo, sind Dieselloks.“

Einerseits handelt es sich beim E-Auto tatsächlich um den Versuch, mithilfe eines grünen Antriebs ein ansonsten obsoletes, umwelt- und gesundheitsschädliches Verkehrskonzept künstlich am Leben zu erhalten. Und doch setzt sich die Erkenntnis durch, dass das E-Auto legitimer Bestandteil der Verkehrswende sein kann. Zwei Gründe sprechen aus ökologischer Sicht dafür:

Zum einen haben E-Autos den Vorteil, dass sie die Schadstoffbelastung durch den Verkehr in den Städten verringern helfen, sie sind leiser, die Feinstaubbelastung durch Bremsabrieb und Motorbetrieb geringer, ihre Ökobilanz ist insgesamt besser, als die von Verbrennern, und das wird sich in Zukunft noch mehr zu ihren Gunsten entwickeln.

Zweitens besteht die berechtigte Hoffnung, dass eine Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs auch diejenige des restlichen Straßenverkehr – Busse, Taxis, Lieferwagen, LKW, Motorräder – nach sich ziehen wird – es geht also um viel mehr als nur die Privat-PKW.

(bme)