Missing Link: Contact Tracing – Gesundheit als globales Big-Data-Projekt

Seite 2: Zentral oder dezentral?

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Die Debatte bei uns drehte sich weniger um solche Grundsatzfragen, sondern um die Frage „zentral oder dezentral?“. Es entstand dabei der Eindruck, es gehe bei der zentralen Lösung um eine Erfassung tendenziell aller Bürgerinnen und Bürger mit Name, Adresse, Bewegungsdaten und Infektionszustand. Beim Stichwort dezentral wiederum dachten viele an Anonymität, Peer-to-Peer und den Schutz persönlicher Daten. Dabei geht es bei der Frage nach zentral oder dezentral einzig und allein darum, wo die Berechnung der Listen möglicher Kontaktpersonen geschieht – auf den Geräten selbst oder auf einem Server. Es werden also zu keiner Zeit persönliche Daten auf dem Server gespeichert, es werden immer andere Apps kontaktiert, niemals andere Personen.

Dieser Ansatz ist mit China oder Südkorea nicht zu vergleichen, wo alle App-Benutzer ständig ihre Daten inklusive Ortsangaben auf einen Server hochladen. Der Nutzer oder die Nutzerin kann die App deaktivieren, den Flugmodus einschalten, und selbst im Falle einer Diagnose die Weitergabe der Meldung verweigern.

Die Frage, ob anonymisierte IDs auf zentralen Servern oder lokal gespeichert werden – durchaus interessant für Fachleute –, hatte es ins Zentrum der Debatte geschafft. Dem Auftraggeber Gesundheitsministerium wurde unterstellt, mit der App Böses im Schilde zu führen. Vor allem im Kontrast zu den Lockdown- und Shutdown-Maßnahmen, die die App möglicherweise abzumildern in der Lage wäre, erscheint die Debatte seltsam verzerrt und überhitzt. Frank Fitzek, Professor an der TU Dresden und an der Programmierung der App beteiligt, schreibt in einem Gastbeitrag für die FAZ: "Wir haben uns nicht für eine europäische Lösung entschieden und alles so lange zerredet, bis wir unsere Daten nun über Googles und Apples APIs dediziert preisgeben."

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Womit diejenigen genannt wären, die als Gewinner aus der Debatte hervorgehen: die Betreiber der Smartphone-Betriebssysteme, Apple und Google. Fast jede Deutsche besitzt ein Smartphone – bei den 14- bis 59-Jährigen sind es 98 Prozent –, auf dem im Schnitt 80 Apps installiert sind, viele von ihnen mit Zugriff auf Kontakte und Lokalisierungsdaten. Der Marktanteil ihrer Plattformen für mobile Endgeräte beträgt in Deutschland zusammengenommen 99,1 Prozent. Durch ihre technologische Schlüsselstellung verfügen letztlich die Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley über die Souveränität darüber, welche App und welches Design letztlich realisiert werden.

Die Diskussion um die Datenschutzaspekte der Corona-App, die es auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft hat, kontrastiert auf verblüffende Weise mit einer anscheinend verdrängen Realität: Nämlich der Tatsache, dass wir alle ständig einen breiten Strom an personenbezogenen Informationen – also laut Europäischer Datenschutzgrundverordnung alle, „die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person" beziehen – freiwillig an Datenkonzerne abgeben.

Hier offenbart sich eine kognitive Dissonanz und damit ein kollektiver Verdrängungsmechanismus: Wir scheinen den marktlogischen Umgang mit unseren eigenen Daten verinnerlicht zu haben, in dessen Folge wir sie den Digitalkonzernen hinterherwerfen, den Gesundheitsbehörden jedoch die Nase vor der Tür zuschlagen. Und das Misstrauen gegenüber staatlichen Behörden, es könnten soziale Graphen erstellt werden oder die Anonymität sei nicht hundertprozentig gewährleistet, stehen in fast obszönem Gegensatz zur Datensammelpraxis der Konzerne, die wir tagaus, tagein befördern.

Dirk Brockmann, Epidemiologe an der Humboldt-Universität Berlin, ist dieser Widerspruch aufgefallen: "Jeder hat ein Handy, das weiß, wo Sie sind, und manche Leute tragen sogar Fitness-Tracker, die im Prinzip Fieber erkennen können", sagte der Professor für komplexe Systeme, der am Robert Koch Institut ein Projekt zur Modellierung von Infektionskrankheiten leitet. Er rief die Bevölkerung dazu auf, Daten an die Gesundheitsbehörden zu „spenden“, was an die altruistische Praxis der Blutspende erinnert.