Missing Link: Das Ende der Preußischen Optischen Telegraphenlinie

Seite 2: Nachrichten mit Interpretationsspielraum

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An der wohl berühmtesten Depesche kann man sehen, dass die Nachrichten nicht 1:1 übertragen wurden, sondern Interpretations-Spielraum ließen. Nach der blutigen Niederschlagung der März-Revolution ritt der König Friedrich Wilhelm IV. am 21. März 1848 unter schwarz-rot-goldener Fahne durch Berlin. Die 200 Märzgefallenen waren noch nicht begraben, da wurde dieser Ritt propagandistisch ausgeschlachtet und am nächsten Tag in Extrablättern verbreitet. Die Depesche wurde um 11:30 in Berlin abgeschickt und von der Kölner Zeitung um 15:30 so veröffentlicht:

"Nach einer so eben durchgehenden telegraphischen Depesche habe des Königs Majestät die National-Farben Deutschlands gestern angenommen und sich in einer Proclamation, so wie auch mündlich dahin ausgesprochen, sich ohne Usurpation an Deutschlands Spitze zu stellen, um schleunigst die Einheit und Unabhängigkeit des deutschen Volkes zu bewahren. Seine Majestäten ritten unter lautem Jubel und unbeschreiblicher Huldigung des Volkes durch die Stadt, und ist in Berlin die Bewegung als beseitigt zu betrachten."

Die Depesche lief bis Koblenz weiter. Dort heißt es in der Koblenzer Zeitung um 16:30:

"Gestern hat Seine Majestät der König die Nationalfarbe Deutschlands angenommen, in einer Proclamation, wie mündlich sich ausgesprochen, daß er sich ohne Usurpation an Deutschlands Spitze stellen werde, um dem deutschen Volke Einheit und Unabhängigkeit zu bewahren. Se. Majestät der König ritten durch die Stadt unter lautem Jubel und unbeschreiblichem Enthusiasmus des Volkes. Die Bewegung ist hiernach als beseitigt zu betrachten."

In seinem Büchlein "Der optische Telegraf" bewundert der schwedische Schriftsteller und Philosoph Lars Gustafsson die Effizienz des Systems. Nur zwei Minuten habe es gebraucht, bis ein Signal zwischen Berlin und Koblenz hin- und hergewandert sei. Das klingt beeindruckend, bezieht sich aber auf eine ganz spezielle Übermittlung, nämlich die der "Berliner Zeit", nach der ganz Preußen funktionieren sollte. Dreimal pro Woche wurde um 13:00 (im Sommer um 16:00) nach vorheriger Ankündigung mit dem Signal B4 das Zeitzeichen nach Koblenz geschickt und lief als B3 innerhalb einer Minute nach Berlin zurück. Die Schwarzwälder Uhren in den 61 Stationen mussten genau auf diese Uhrzeit eingestellt werden. Diese "Berliner Zeit", an die sich alle preußischen Behörden halten mussten, sorgte in der Rheinprovinz für einigen Ärger, war aber wichtig für die Kontrolle der Journalbücher, ob die Weitergabe der optischen Signale funktionierte. In einem Kommunikationskanal benötigt jede Synchronisierung etwas Zeit, ist aber notwendig. Jede Gleichzeitigkeit ist dann eine durch den Beobachter bzw. Sender bestimmte Gleichzeitigkeit.

Die eigentliche Übertragungsgeschwindigkeit der 588 Kilometer langen preußischen Linie betrug rechnerisch 15 Minuten für einen längeren Satz und dreieinhalb Minuten für ein codiertes Wort. Bei besten Bedingungen benötigte ein längerer Satz drei Stunden, doch typischer waren Depeschen, die unterwegs pausierten. Eine am 30. Oktober 1840 von Köln nach Berlin geschickte Depesche schaffte es nach 96 Minuten bis zur Station 29. Am nächsten Tag lief sie ab 9 Uhr morgens bis zur Station 25, wo wegen schlechter Sicht wieder Sendepause war. Erst um 14 Uhr traf sie in Berlin ein und konnte dort dechiffriert werden. Neben dem Wetter spielte die Rangfolge eine wichtige Rolle. Die höchste Priorität hatten Citissimo-Depeschen, die für Militärmanöver reserviert waren, gefolgt von Cito-Eilmeldungen, danach folgten "aufgenommene Depeschen" und schließlich gewöhnliche Meldungen. Die schnellste jemals übermittelte Depesche war ironischerweise eine private, eine Geburtstagsgratulation des Telegrafendirektors O’Etzel an einen Pfarrer, die in einer halben Stunde mit 22 Worten von Koblenz (Station 61) nach Zitz (Station 9) lief. O’Etzel hatte kurzerhand die "Übermachung" privatisiert.

Bei einem Durchsatz von sechs bis sieben Depeschen pro Tag war abseits der mit Cito deklarierten Börsennachrichten an private oder gar kommerzielle Nachrichten nicht zu denken. Doch hatte Friedrich Wilhelm III. in der königlichen Order zum Bau der Telegrafenlinie die Empfehlung gegeben, zu prüfen, ob der Handelsstand die Linie nutzen kann "und ob vielleicht durch eine solche Benutzung ein Teil der Unterhaltungskosten gedeckt werden können." Genau das passierte, als die elektromagnetischen Telegrafenlinien die Arbeit der optischen Telegrafen übernahmen und das letzte Teilstück am 12. Oktober 1852 eingestellt wurde. Ab 1849 wurde das militärische Nachrichtenkorps aufgelöst, die Telegrafendirektion wurde vom Kriegsministerium zum Handelsministerium verlegt. Nur wenige Telegrafisten schafften es, nach einem ausführlichen Orthografietest in den Telegrafendienst der Post aufgenommen zu werden, die Telegramme statt Depeschen verschickte. Als der überaus erfolgreiche Erfinder Samuel Morse im Jahre 1856 nach Potsdam kam, um Alexander von Humboldt zu besuchen, stand auf dem Telegrafenberg kein Telegraf mehr. Seit 2009 ist dort wieder ein Nachbau des Signalmastes zu sehen.

Die meisten Dokumente zur preußischen Linie wurden durch einen Brand des Heeresarchivs in Potsdam nach dem Bombenangriff vom 14. April 1945 vernichtet. In noch vorhandenen Dokumenten wie in der Fachliteratur gibt es keinen Hinweis auf betrügerische Handlungen auf der preußischen Strecke. Anders sieht es bei den französischen Telegrafenlinien des Chappe-Systems aus, das 1854 eingestellt wurde. Dort gelang es François und Louis Blanc, auf der Telegraphenlinie Tours – Bordeaux die Nachrichtenübermittlung der Börsenkurse zu "hacken" und den Kursnachrichten eigene Zeichen unterzujubeln. Sie waren so ganz im Sinne von Heinrich Heine "Zeichenkundige" und bauten mit der Börsenspekulation ein kleines Vermögen auf. Vom so gewonnenen Geld betrieben die ersten Hacker der Geschichte ein Spielcasino, zunächst in Paris, dann in Bad Homburg.

(tiw)