Missing Link: "Das Internet ist im Prinzip kaputt"

Seite 3: Neue Standardisierungsschwergewichte

Inhaltsverzeichnis

Seine Vorreiterstellung im Standardisierungsprozess, die durch den mit Abstand größten Anteil an den RFCs verschiedener Unternehmen dokumentiert ist, hat Cisco verloren. Immerhin schickt das Unternehmen nach wie vor viele Teilnehmer, etwa 30 waren es beim jüngsten IETF Meeting in Philadelphia und damit mehr als Google (24), Huawei/Futurewei (24) Juniper (19), Microsoft (15) und Apple mit genauso viel wie die National Security Agency (12).

Bei den Publikationen setzte sich Google 2021 laut den Angaben von einem anderen Ex-IETF-Chef, Ericsson Ingenieur Jari Arkko, wohl erstmals vor Cisco. Ebenso wie Huawei veröffentlichte Google 2021 25 RFCs. Die Liste der Standards, an denen Google beteiligt war, unterstreicht die Dominanz des US-Unternehmens noch mehr. Sie reicht von weiteren Dokumenten zur Standardsuite des neuen Transportprotokolls QUIC, über TLS Certificate Compression bis zu Richtlinien zur Nutzung von Multiplexing-Features des Real-Time Transport Protokolls (RTP) oder Captive Portal-Identifizierung bei DHCP und Router Advertisements.

Ländervergleich im Laufe der Jahre

(Bild: Jari Arkko)

Das Internet besser machen sei das Ziel der IETF, schrieb Harald Alvestrand, erster nicht-amerikanischer Vorsitzender der IETF, während seiner Amtszeit 2004 in einem RFC zur Mission der Standardisierer. Ein besseres Internet dient heute freilich dem Geschäftsmodell des Riesen. Die Optimierung für kurze Latenzen etwa macht ihre Dienste attraktiver und hält Daten-bringende Kunden bei der Stange. Alvestrand, der für seinen IETF Vorsitz von seinem damaligen Arbeitgeber Cisco unterstützt wurde, gehört heute genauso wie Internet Vater Vint Cerf zum Team Google. Auch Huawei hat ehemalige Cisco-Mitarbeiter angeheuert und will es Google offenbar nachmachen. Die beiden kürzlich um den IETF-Vorsitz ins Rennen geschickten Huawei. und Futurewei-Vertreter, Barry Leiba und Alvaro Retana, arbeiteten früher auch für Cisco.

Wenn wenige große Unternehmen die Entwicklung der Standardisierung rund um TCP/IP dominieren, müsste sich die IETF Regeln gegen den möglichen Missbrauch des Standardisierungsprozesses einfallen lassen, meint Wissenschaftlerin Hofmann. Wie könnten die Organisation sonst noch für sich Inklusivität, Offenheit und Fairness in Anspruch nehmen – im Gegensatz zur Erzfeindin ITU, der UN-Organisation zur Technik der Telekommunikationsnetze?

Es fehle in der IETF tatsächlich an Werkzeugen, um wenige, besonders lautstarke Unternehmen im Standardisierungsprozess einzuhegen und zu verhindern, dass diese den Prozess der IETF prägen. Die IETF sei zugleich Opfer der fortschreitenden Konsolidierung des Marktes, fürchtet Klensin, aber in gewisser Weise auch Teil des Problems.

Die Decentralized Internet Infrastructure Research Group (DINRG) präsentierte beim Treffen in Philadelphia im Juli die Ergebnisse ihres Workshops zum Problem der Zentralisierung und konstatierte nüchtern, man sei sich einig, dass die Zentralisierung im Bereich Datentransportnetze, Kontrolle über Plattformen, Entwicklung neuer Applikationen und deren Implementierung rapide vorangeschritten ist. Es ist nach einem Bericht des Internet Architecture Board (IAB) schon die zweite Mahnung innerhalb von zwei Jahren.

Der DINRG-Bericht geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter. Nicht nur Netze und Anwendungen selbst, auch die Entwicklung von Standards erfahre den Trend zur Konsolidierung, stellen die Autoren des Workshops Berichts, Datenschutzexperte Christian Huitema, APNIC-Chefwissenschaftler Geoff Huston und die beiden DINRG-Vorsitzenden, der deutsche Wissenschaftler Dirk Kutscher und seine US-Kollegin Lixia Zhang fest.

"Heute gibt es offenbar nur noch eine kleine Zahl von Organisationen in einer überschaubaren Zahl von Ländern, die Internetprotokolle entwickelt", schreiben sie. Sogar auf einzelnen Schichten des Internet Protokollstacks wollen manche Beobachter Konzentrationstrends erkennen: Das neue Transportprotokoll QUIC und auch Konzepte wie DNS over HTTPS sind geeignet, die Kontrolle über Verkehre in weniger Hände zu legen, so die Befürchtung.