Missing Link: Das Rätsel Dunkle Materie – der unsichtbare Elefant der Kosmologie

Seite 2: Galaxienhaufen auf der Flucht

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Galaxien waren von nun an das angesagte Ding. Um ihre Bewegung zu messen, nahm der US-Astronom Vesto Slipher die Spektren zahlreicher Galaxien auf, also das mit Hilfe eines Prismas oder optischen Gitters nach Wellenlängen sortierte, in seine Grundfarben zerlegte Licht der Galaxien. Im Spektrum finden sich bei charakteristischen Wellenlängen dunkle Linien des Wasserstoffs und anderer Elemente in den Sternatmosphären wieder, welche in Atomen gebundene Elektronen dieser Elemente im Durchlicht absorbieren. Wenn die Galaxien sich dem Beobachter nähern oder sich von ihm entfernen, verschieben sich diese Linien im Spektrum - der Doppler-Effekt, der uns im Akustischen von sich nähernden oder entfernenden Schallquellen wie etwa einem Peterwagen oder einem Motorflugzeug wohlvertraut ist: bei Annäherung ist der Ton höher, weil sich die Wellenlänge in Bewegungsrichtung verkürzt, bei Entfernung wird der Ton umgekehrt tiefer.

Wenn eine Lichtquelle sich nähert, wird sichtbares Licht dementsprechend zum kurzwelligen blauen Rand des Spektrums hin verschoben, wenn sie sich entfernt zum Roten hin. Aus der Verschiebung der Spektrallinien lässt sich der radiale (also in Richtung der Sichtlinie zum Beobachter orientierte) Anteil ihrer Bewegung im Raum sehr präzise messen; der tangentiale Anteil in der Himmelsebene ist hingegen nicht messbar, weil die Galaxien so weit entfernt sind, dass sie sich selbst über die Dauer eines Menschenlebens nicht messbar am Himmel verschieben. Slipher stellte fest, dass die Spektren aller Galaxien - mit Ausnahme desjenigen der Andromedagalaxie - eine Rotverschiebung von mehreren Hundert bis mehreren Tausend Kilometern pro Sekunde aufwiesen und die Galaxien sich somit von uns entfernten. Man sprach fortan von der Spiralnebelflucht. Nur die Andromedagalaxie mit ihren Satelliten (z.B. NGC 221) näherte sich – sie wird in ca. 5 Milliarden Jahren mit der Milchstraße kollidieren.

Historische Galaxienspektren von 1930, aufgenommen von Milon Humason in den 1930ern. Die Spektren sind Negative, Licht erscheint dunkel. Die Streifen ober- und unterhalb sind Vergleichsspektren eines bekannten Elements im Spektrographen. Der rote Pfeil markiert jeweils ein Linienpaar (hell) im auseinandergezogenen Spektrum der Galaxien rechts, das für zunehmend fernere Galaxien immer weiter nach rechts zum Roten hin verschoben ist.

(Bild: Humason, 1936, The Astrophysical Journal, 83:10; NASA Goddard Space Flight Center)

Im Februar 1933 veröffentlichte der zu jener Zeit in Pasadena/Kalifornien tätige Schweizer Astrophysiker Fritz Zwicky eine Arbeit (auf deutsch!) über die Rotverschiebung der Galaxien, insbesondere im Sternbild "Haar der Berenice" (lat. Coma Berenices). Dort hatte man eine Ansammlung von über tausend Galaxien aufgespürt, genannt "Coma-Galaxienhaufen", die sich nach Zwickys Messungen – auf Basis der Helligkeiten der Galaxien geschätzt – in ähnlicher Entfernung von uns befanden und offenbar zusammengehörig waren. Zwicky maß wie Slipher ihre Radialgeschwindigkeiten und stellte fest, dass diese um mehrere tausend Kilometer pro Sekunde variierten – nicht weil ihre Entfernung so unterschiedlich war, sondern weil sie sich im Schwerefeld um ihren gemeinsamen Schwerpunkt bewegten.

Zwicky versuchte, die Gesamtmasse anhand der Leuchtkraft der Galaxien abzuschätzen und kam auf diese Weise auf einen Wert, der um den Faktor 400 kleiner war, als diejenige Masse, die nötig wäre, um die Galaxien im Coma-Haufen bei diesen Geschwindigkeiten zusammen zu halten. Bei Überschreitung der Fluchtgeschwindigkeit des Galaxienhaufens müssten die Galaxien eigentlich in alle Richtungen davonfliegen. Er schloss daraus, dass die eigentliche Masse des Galaxienhaufens entsprechend viel größer sein müsse und verwendete als einer der Ersten den Begriff "dunkle Materie". Er ging selbstverständlich davon aus, dass es sich dabei um nichtleuchtende, gewöhnliche Materie wie Gas, Staub und erloschene Sterne handeln müsse – was denn auch sonst?

Etwa zur gleichen Zeit bemühte sich der Niederländer Jan Hendrik Oort die Bewegung der Sterne senkrecht zur Milchstraßenscheibe zu bestimmen, um daraus auf die Masse und Größe der Milchstraße zu schließen, die Fortsetzung der Arbeiten seines Doktorvater Jacobus Kapteyn. Er kam auf eine Dichte von 0,092 Sonnenmassen pro Kubikparsec. Durch Abzählung von Sternen fand er nur halb soviel leuchtende Masse pro Volumen und schloss daraus, dass ungefähr die Hälfte der Materie in Form von Staub, Asteroiden und Planeten vorliegen müsse. Die Sonne vereinigt hingegen 99,8% der Masse des Sonnensystems in sich.

Der US-Amerikaner Horace Babcock ermittelte im Rahmen seiner Doktorarbeit im Jahr 1939 die Rotationsgeschwindigkeit der Andromedagalaxie bei verschiedenen Radien. Für eine scheibenförmige Massenverteilung, deren Dichte entsprechend des Verlaufs der Helligkeit nach außen exponentiell abfällt, wäre zu erwarten gewesen, dass die Umlaufgeschwindigkeit der Sterne abnehmen würde. Tatsächlich maß Babcock eine nach außen hin zunehmende Geschwindigkeit. Dies konnte er nur damit erklären, dass sich in den Außenbereichen der Galaxie ein großer Teil der Masse befinden müsse.

Allerdings zeigten spätere Messungen mit dem 25-Meter-Radioteleskop in Dwingeloo, Niederlande, dass Babcocks gemessene Geschwindigkeiten im Außenbereich der Galaxie deutlich zu hoch waren. Dennoch entsprachen auch später gemessene, genauere Werte nicht der sichtbaren Verteilung der Masse, sondern die Umlaufgeschwindigkeit blieb für einen weiten Bereich von Radien der Galaxie konstant: die Rotationskurve, also die Umlaufgeschwindigkeit über den Radius aufgetragen, verlief außerhalb des Kernbereichs flach. Eine ellipsoide Verteilung der Masse in Form eines plattgedrückten Balls konnte die Rotationskurve der Andromedagalaxie allerdings reproduzieren – nur war von einer solchen nichts zu sehen.

In den späten 1960ern und frühen 1970ern verwendeten Vera Rubin und Kent Ford einen von Ford entwickelten Bildröhren-Spektrographen, um die Spektren der Andromedagalaxie und anderer Spiralgalaxien entlang ihres Halbmessers mit hoher Präzision aufzunehmen, wobei sie vor allem solche aufs Korn nahmen, die wir von der Kante sehen, so dass die maximale Radialgeschwindigkeit der tatsächlichen Geschwindigkeit der Sterne entspricht und nicht durch eine Verkippung ihrer Bahn zum Beobachter verringert erscheint. Rubin und Ford fanden, dass die Rotationskurven bis in die äußersten sichtbaren Bereiche der Galaxien flach verliefen, was darauf hindeutete, dass sie von einem unsichtbaren Materiehalo umgeben waren.

Rotationskurven von Spiralgalaxien, gemessen von Vera Rubin und Kent Ford. Auf der x-Achse ist der Abstand vom Zentrum aufgetragen (1 kpc = 3260 Lichtjahre), auf der y-Achse die Umlaufgeschwindigkeit der Sterne bei diesem Radius. Diese sollte nach dem Anstieg auf ein Maximum am Rande des Zentralbereichs eigentlich nach außen hin wieder stark abfallen, weil die Sternendichte mit dem Radius exponentiell abnimmt. Stattdessen bleibt die Umlaufgeschwindigkeit weitgehend konstant bis zum äußersten Bereich der sichtbaren Scheibe.

(Bild: Rubin, Ford, Thonnard, Astrophysical Journal Letters, 225, L107, 1978)

In den 1960ern ermöglichte die Radioastronomie erstmals das Aufspüren von kaltem, nicht leuchtendem Wasserstoffgas (HI), das vor allem bei 21 cm Wellenlänge strahlt. Messungen seiner Bewegung bestätigten die Beobachtungen im Optischen und setzten die flachen Rotationskurven weit über den sichtbaren Radius der Galaxien hinaus fort. Sie erlaubten gleichzeitig, die Menge an neutralem Wasserstoffgas zu bestimmen – dem häufigsten Stoff im Universum, aus dem neue Sterne entstehen. Morton Roberts fand 1967 das Gas der Andromedagalaxie in zwei Ringen ihrer Ebene konzentriert, vor allem in den Spiralarmen, während um die Galaxien herum kaum Wasserstoff zu finden war. Neuere Arbeiten fanden, dass die Gesamtmasse von Wasserstoff und Sternen zusammen nur 10% der Masse typischer Galaxien ausmacht. In den Kernbereichen der Galaxien, wo die Dichte am größten ist, fand sich zum Teil eine mehrhundertfach größere gravitative Masse im Vergleich zur leuchtenden Masse der dortigen Sterne.

Die größten Mengen an Gas konnten die Astronomen erst mit Röntgenteleskopen aus dem Weltraum aufspüren, denn die Atmosphäre der Erde ist undurchlässig für Röntgenstrahlung. Million Kelvin heißes Gas strahlt den größten Teil seiner Leistung als Röntgenstrahlung ab. Das Gas heizt sich so stark auf, weil von außen einfallendes Gas von der enormen Schwerkraft des Galaxienhaufens beschleunigt wird, bis es schließlich auf das stationäre Gas stößt, das die Galaxien umgibt und zum Beispiel aus Sternexplosionen (Supernovae) gespeist wird. Es zeigte sich, dass ein Mehrfaches der Masse der Galaxien im heißen Gas zwischen ihnen steckt. Weil das Gas so heiß ist, kann es sich jedoch nicht zu Galaxien verdichten, der thermische Druck ist größer als die Eigengravitation.