Missing Link: Das Rätsel Dunkle Materie – der unsichtbare Elefant der Kosmologie

Seite 3: Kosmische Sammellinsen

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Dennoch macht auch dieses Gas nur 1/6 der Masse aus, die nötig wäre, um Galaxienhaufen zusammen zu halten. Wo aber steckt diese Masse? Ein Schlüssel zum Verständnis war die Erkenntnis, dass sie offenbar keinerlei Strahlung aussendet - sie leuchtet nicht, sie strahlt keine Wärmestrahlung aus, sie verdunkelt auch nichts. Sie macht sich nur anhand ihrer Gravitationswirkung bemerkbar.

Seit einigen Jahren gelingt der Nachweis der unsichtbaren Masse anhand der Lichtablenkung in ihrem Schwerefeld. In einigen wenigen prominenten Fällen stehen Galaxien genau auf der Sichtlinie zu hellen Objekten wie Quasaren oder anderen Galaxien in größerer Entfernung. Da Gravitation die Geometrie der Raumzeit verzerrt, werden Lichtstrahlen, die durch die gekrümmte Raumzeit laufen, geringfügig in Richtung der Masse abgelenkt. Massen wirken deswegen wie Sammellinsen und bündeln das sie passierende Licht, so dass das Hintergrundobjekt heller und vergrößert erscheint. Die Abbildungsqualität einer Gravitationslinse ist allerdings grottig: optische Sammellinsen bündeln das Licht am stärksten am Außenrand und lassen es in der Mitte ohne Ablenkung passieren - Gravitationslinsen krümmen den Lichtweg hingegen umso stärker, je näher er der Masse kommt.

Je nach der Anordnung und genauen Ausrichtung kann das Bild einer Hintergrundgalaxie einen Ring oder einen Bogen ergeben (Einstein-Ring), ein Kreuz aus vier Bildern (Einstein-Kreuz) oder auch nur zweien oder dreien. Dass es sich dabei in der Tat um Bilder desselben Objekts handelt, konnte erstmals am Doppelquasar QSO 0957+561 A/B nachgewiesen werden: die Lichtwege der beiden Bilder des Objekts sind verschieden lang, und wenn der Quasar flackert (ein Masse verschlingendes supermassereiches Schwarzes Loch in einer 8,7 Milliarden Lichtjahre entfernten, in der Entstehung befindlichen Galaxie), so vollzieht das Bild mit dem längeren Lichtweg alle Helligkeitsschwankungen des anderen Bildes mit 417 Tagen Verzögerung nach.

Mit Computerhilfe gelingt es den Astronomen heutzutage, die viel subtileren Verzerrungen ("weak lensing") zahlreicher Hintergrundobjekte durch im Vordergrund befindliche Galaxienhaufen auszunutzen, um daraus die Verteilung der Licht ablenkenden Massen zu rekonstruieren. Dabei zeigen sich riesige, die Galaxien umgebende Halos, die die Räume zwischen den Galaxien ausfüllen, wie etwa beim Galaxienhaufen CL0024+1654.

Links der Galaxienhaufen CL0024+1654, der durch Gravitationslinsenwirkung vor allem am Bildrand deutlich verzerrte Bilder von blauen Spiralgalaxien im Hintergrund erzeugt. Rechts: aus den Verzerrungen lässt sich die Verteilung der gravitativen Materie im Sternhaufen rekonstruieren. Die hellen Galaxien stechen heraus, aber es befindet sich ein Großteil der Materie zwischen ihnen.

(Bild: Links: W.N. Colley and E. Turner (Princeton University), J.A. Tyson (Bell Labs, Lucent Technologies) and NASA/ESA, CC BY 4.0; Rechts: G. Kochanskii, I. Dell'Antonio & T. Tyson/Bell Labs, Lucent Technologies, Nature)

Ein prominenter Fall ist der sogenannte Bullet Cluster 1E 0657-558. Hierbei handelt es sich in der Tat um zwei Galaxienhaufen, die vor 100 Millionen Jahren einander mit hoher Relativgeschwindigkeit von 4500 km/s durchstoßen haben. 2006 untersuchte ein Team um Douglas Clowe den Bullet Cluster mit dem Hubble-Weltraumteleskop und dem Röntgen-Weltraumteleskop Chandra. Zwischen den Galaxien ist sehr viel Platz, daher sind diese einfach aneinander vorbeigeflogen. Jedoch füllt, wie bereits erwähnt, eine erhebliche Masse an heißem Gas den Raum zwischen den Galaxien. Das Gas der beiden Haufen kollidierte unter extremer Aufheizung auf bis zu 100 Millionen K und blieb gewissermaßen in der Mitte zwischen den Galaxienhaufen stecken.

Die infolgedessen von ihm ausgesendete Röntgenstrahlung verrät seine Ausdehnung, Dichte und damit Masse. Die Galaxien der beiden Haufen bringen zusammen etwa 1,5 Billionen Sonnenmassen an leuchtender Sternmaterie auf, während das Gas auf mehr als 20 Billionen Sonnenmassen kommt. Demnach sollte man erwarten, dass die Lichtablenkung in der Gegend des kollidierenden Gases ihr Maximum haben sollte. Dem ist aber nicht so: die Linien gleicher Lichtablenkung konzentrieren sich um die beiden Zentren der Galaxienhaufen – dort muss also noch wesentlich mehr Masse verborgen sein, als in den Gaswolken steckt. Was immer es ist, es hat sich mit den Sternen bewegt und ist nicht wie das Gas kollidiert und steckengeblieben.

Links eine Aufnahme des Bullet-Clusters mit dem Hubble-Weltraumteleskop, rechts ein Bild des heißen Gases im Röntgenlicht mit dem Chandra-Weltraumteleskop. Den Bildern überlagert ist jeweils die Verteilung der gravitativen Masse gemäß Gravitationslinsenverzerrungen des Hintergrunds, bestimmt aus der Hubble-Aufnahme. Die grünen Linien sind Linien gleicher Schwerkraft, die weißen im Zentrum sind Fehlerlinien für die Positionen der beiden Massenzentren (von innen nach außen 68,3%, 95,5% und 99,7% Konfidenz).

(Bild: Douglas Clowe et al., Astrophysical Journal Letters, Volume 648, Number 2, 2006)

Hinweise auf die Dunkle Materie gibt es jedoch noch aus einer völlig anderen Richtung. Das Universum begann bekanntlich in einem Feuerball aus expandierendem heißem Gas – einem sogenannten Plasma, in dem die heftigen Zusammenstöße zwischen den Teilchen verhindern, dass Elektronen und Kernteilchen sich zu Atomen zusammenfinden können. Ein Beispiel für ein Plasma ist die leuchtende Sonnenoberfläche. Heiße Plasmen sind undurchsichtig. Mit der Expansion des Universums dünnte sich das Plasma zunehmend aus und kühlte ab, bis irgendwann 380.000 Jahre nach dem Urknall Wasserstoff- und Helium-Atome und -Moleküle entstanden, transparente Gase, die das Licht fortan passieren ließen.

Es erreicht uns heute aus buchstäblich jeder Himmelsrichtung, denn wenn wir in die Ferne schauen, schauen wir in die Vergangenheit, und geht der Blick weit genug (zurück), landen wir unweigerlich beim Feuerball des Urknalls, der das gesamte Universum gleichmäßig ausfüllte – es gab keinen Ort des Urknalls im ansonsten leeren Raum, sondern der Raum entstand erst mit dem Urknall und war gleichförmig mit dem heißen Gas angefüllt. Durch die Expansion des Universums wurde die Wellenlänge des Lichts, die ursprünglich der Strahlung eines Temperaturstrahlers von 3000 K entsprach, immer weiter gedehnt. Heute, nach 13,8 Milliarden Jahren, ist sie 1100-mal länger und erscheint nur noch wie die frostige Temperatur einer 2,73 K (-270,42°C) kalten Quelle, im Bereich der Mikrowellen. Und deswegen "sehen" diese Strahlung nur Radioteleskope: den kosmischen Mikrowellen-Hintergrund.

Temperaturdifferenzen in der kosmischen Hintergrundstrahlung vom Weltraumteleskop WMAP gemessen, projiziert auf die Oberfläche einer Kugel, die der Himmelskugel "von außen besehen" entspricht - ein irdischer Beobachter würde sich im Zentrum der Kugel befinden. Die Farben stellen Temperaturunterschiede dar. Rot entspricht -200 Mikrokelvin, Violett +200 Mikrokelvin gegenüber der durchschnittlichen Temperatur von 2,73 Kelvin (grün).

(Bild: Max Tegmark, WMAP/NASA)