Missing Link: Das Versagen des ÖPNV, oder: Elektroautos für alle?

Besserverdienende bekommen Kaufprämien für Elektroautos, die normale Bevölkerung wird mit dem Neun-Euro-Sommermärchen bei Laune gehalten. Ginge es auch anders?

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(Bild: husjur02/Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Die Hoffnung, der öffentliche Verkehr werde einen wesentlichen Beitrag zur Verkehrswende leisten können, erweist sich zusehends als fraglich. Auf der einen Seite stehen die seit langem bekannten Probleme – zu unflexibel, zu teuer, zu schlecht, und bestenfalls in Großstädten eine akzeptable Option. Auf der anderen Seite steht die Elektrifizierung der privaten Auto-Flotte an, und damit verliert auch das Klimaschutzargument für den ÖPNV an Überzeugungskraft.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Und die Anschaffung von E-Autos wird staatlicherseits massiv gefördert. Das Ziel der Bundesregierung, bis 2030 15 Millionen Elektroautos auf der Straße zu haben, ist ihr mit Umweltbonus und Innovationsprämie bis zu 9000 Euro – pro Person – wert. Davon muss ein Hartz4-Empfänger 20 Monate leben. Angesichts kaum vorhandener öffentlicher Ladestruktur und noch höheren Preisen für batteriebetriebene Fahrzeuge bislang vor allem eine Option für Besserverdienende, am besten mit Lademöglichkeit zu Hause.

Der Rest kann auf den Bus warten. Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Tatsachen ins Auge zu sehen und statt der gebetsmühlenartig wiederholten Beteuerung, man wolle den öffentlichen Verkehr diesmal wirklich attraktiv gestalten, vielmehr die Elektrifizierung des Verkehrs beschleunigen, Infrastrukturen dafür ausbauen und vor allem die Elektrifizierung halbwegs sozial gerecht und einigermaßen klimaunschädlich anzugehen?

Da ist zunächst die Unfähigkeit und Unwilligkeit, mehr als Dienst nach Vorschrift bzw. nach Fahrplan zu machen. Das zeigten auch die Reaktionen auf das Neun-Euro-Ticket nach dem Motto "Hilfe, die Kunden kommen!" Ob Punks auf Sylt, Fahrradausflügler am Wochenende – alles eine Zumutung aus Sicht des Systems. Die aktuelle Karte der Verkehrsverbünde sieht aus wie aus der Zeit der süddeutschen Städtekriege.

Kleinstaaterei bei den Verkehrsverbünden

(Bild: Maximilian Dörrbecker (Chumwa), CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons)

Der öffentliche Verkehr hatte schon vor Corona nur einen Anteil von ca. 15 Prozent, in der Pandemie ist dieser deutlich eingebrochen. Zunächst ging es in der Corona-Zeit mit ihm abwärts, und er hat sich bis heute nicht davon erholt. Das scheint auch ein globaler Trend zu sein: "87 Prozent der Verbraucher weltweit bevorzugen die Nutzung eines privaten Fahrzeugs, um sicher unterwegs zu sein", teilte die Unternehmensberatung Capgemini nach der Befragung von 11.000 Verbrauchern mit. Zu Beginn der Pandemie seien es nur 57 Prozent gewesen.

Auch die Infrastruktur ist marode, kaputtgespart oder zumindest nicht schnell ausbaubar. Deutschland verfügt auch über kein modernes Hochgeschwindigkeitsnetz, bei der Bahn wird die fällige Modernisierung Jahrzehnte dauern. Auch der Deutschlandtakt bis 2030 erscheint illusorisch.

Daher halten Expertinnen und Experten eine Verdoppelung des Fahrgastanteils für unrealistisch. Zur Erinnerung: Eine Erhöhung des ÖPNV-Anteils am Gesamtverkehr von 30 Prozent bis 2030 wäre aus Sicht der Verkehrswende wünschenswert.

Der US-amerikanische Essayist und Autoexperte Dan Albert plädiert angesichts des dort noch desolateren, teilweise gar nicht vorhandenen öffentlichen Verkehrs, für eine radikale Lösung: Anstatt arme Leute auf schlechte öffentliche Infrastruktur zu verweisen und kostenlose Bus-Tickets zu verteilen, wäre der Staat besser beraten, ihnen Autos zu subventionieren. Er nennt diese Autos-für-alle-Politik analog zum bedingungslosen Grundeinkommen "bedingungslose Grundmobilität".

Denn der ÖV sei grundsätzlich diskriminierend und stigmatisierend. In den USA ist Busfahren meistens tatsächlich eine extreme Erfahrung sozialer Segregation – sie sind eine exklusive Veranstaltung für Verrückte, Schwarze, Frauen und all diejenigen, die sich kein Auto leisten können, also im Bewusstsein vieler Amerikaner fast schon obdachlos sind.

Bei uns ist das sicher nicht so extrem, aber dass der ÖV auch bei uns als Verkehr 2. Klasse für die Resteversorgung zuständig ist, habe ich an anderer Stelle geschrieben, und ihn als Hartz IV der Mobilität bezeichnet.

Nicholas Klein von der Cornell-Universität hat das Problem wissenschaftlich untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass Autobesitz gerade armen Menschen dabei helfen könne, bessere Arbeit zu finden, aus Gebieten mit hoher Armut wegzuziehen. Sie könnten Zeit sparen durch verkürzte Pendelzeiten, Geld sparen durch motorisiert vermittelte Großeinkäufe und dergleichen. Er gibt zu bedenken: "Was ich sehe, ist, dass viele Haushalte mit niedrigem Einkommen ausgehen und etwas mehr für unzuverlässige Gebrauchtwagen ausgeben, und diese Autos verschmutzen möglicherweise viel mehr."

Autobesitz nach ökonomischem Status

(Bild: Umweltbundesamt)

Doch auch diesseits des Atlantiks sind Vorschläge in diese Richtung zu hören. Lisa Ruhrort, Mobilitätssoziologin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, hat den Vorschlag gemacht, doch statt Kaufprämien für E-Autos, die in erster Linie gut Betuchten zugutekämen, "jeder alleinerziehenden Mutter ein Elektroauto zu schenken". Der provokante Vorschlag würde für mehr soziale Gerechtigkeit bei den Verkehrssubventionen sorgen und obendrein Geschlechterungerechtigkeit entgegenwirken.

Frauen stehen E-Autos wohlwollende gegenüber als die eher Verbrenner-nostalgischen Männer. Eine im Auftrag von Kia durchgeführte repräsentative Studie hat ergeben, dass Frauen Nachhaltigkeit generell noch wichtiger ist als Männern. Sie haben zudem großes Interesse an E-Mobilität.

Frauen sind nicht nur die besseren Autofahrer, sie "können besonders von Elektromobilität profitieren". Hier kommt ihre statistisch belegte Nutzungsweise ins Spiel, erfährt man beim Forschungsprojekt "die-elektromobilitaet-ist-weiblich" vom Institut für Verkehrsmanagement der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Frauen fahren eher kürzere Einzelwege, kürzere Gesamtstrecken, sind vermehrt innerorts unterwegs, häufiger am Wohnort anwesend, um nur einige Verhaltensmuster zu nennen, die allesamt den Spezifika von kleinen batterieelektrischen Fahrzeugen entgegenkommen.

Mobilität von Frauen und von Männern

(Bild: VSD)

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron trat kürzlich in die Debatte ein. Menschen aus wenig begüterten Haushalten sollen für 100 Euro im Monat ein E-Auto leasen können, verkündete er im Mai auf einer Wahlkampfveranstaltung. Damit hatte er sich überraschenderweise eine Forderung zu Eigen gemacht, die auf die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo eines der weltweiten role models für eine erfolgreiche Verkehrswendepolitik, zurückgeht.

Die französische Regierung will so einerseits den CO₂-Ausstoß auf den Straßen reduzieren und gleichzeitig auch den bescheidensten Haushalten den Zugang zu Elektroautos ermöglichen. Sehr präsent in Frankreich ist die Erinnerung an die Proteste der Gelbwesten, die teilweise militant für niedrigere Spritpreise demonstrierten, und eine Spaltung der französischen Gesellschaft deutlich machten: Auf der einen Seite die privilegierten Städter, die von Verkehrswendemaßnahmen profitieren, auf der anderen die armen Leute auf dem Land, die auf ihre fossil betriebenen Fahrzeuge angewiesen sind. Die Gelbwesten-Bewegung machte vor ein paar Jahren diesen electric divide deutlich. Macrons Vorstoß ist auch eine Reaktion darauf, wenn er versucht, die Gelbwesten und die LePen-WählerInnen für das Elektroauto zu bewegen.

Auch die Subventionen des französischen Staates kamen bisher weitgehend den gut verdienenden und berufstätigen Menschen zugute. Macron strebt 100.000 geleaste Elektrofahrzeuge pro Jahr an, bei geschätzten Kosten von 50 Millionen Euro für das erste Jahr oder einem scheinbar sehr kleinen Betrag von 500 Euro pro Fahrzeug. Die französischen Autohersteller könnten auch profitieren, Renault, aber auch Nissan und MG aus China haben passende Angebote, der elektrische Nissan Leaf ist zum Beispiel für 99 Euro pro Monat zu haben.

Ruhrorts Kommentar zu Macrons Vorstoß: "Auch wenn es natürlich das Auto (und die Autoindustrie) gegenüber Fahrrad und Co. begünstigt: für den Ausgleich zwischen Arm und Reich und zwischen Städten und ländlichen Regionen ist das aus meiner Sicht schon ein interessanter Ansatz…"

Auch der E-Strategie der deutschen Hersteller würde eine solche Maßnahme Beine machen. Stellen diese doch in erster Linie E-SUVs her wegen den höheren Margen, ein Konzept, das sie aus der Verbrennerwelt übernommen haben. Aber vermutlich auch, weil sie im kleinen und mittleren Segment nicht konkurrenzfähig sind. Daimler hat sich gerade von der A-Klasse verabschiedet und fokussiert sich auf die neureiche Klientel in China und Indien.

Dabei gibt es vergleichsweise günstige E-Neuwagen: Nach Abzug der Förderprämie geht das Angebot an elektrischen Neuwagen wie dem Dacia Spring bereits bei 10.000 Euro los. In einer Liste von 15 günstigen Elektroautos findet sich jedoch kein einziges Modell von Volkswagen, BMW, Audi oder Mercedes.

Dass die Hersteller diesen Weg überhaupt gehen können, liegt dem Mobilitätssoziologen Wert Canzler zufolge an der Politik: "Warum sollten sie auf den i3 oder A2 setzen, wenn mit dem E-tron und dem iX das Vielfache zu verdienen ist? Es sind politische Entscheidungen, die diesen Weg versperren." Canzler weiter: "Was stattdessen nötig wäre, ist ebenfalls bekannt: Abschaffung der Dienstwagenregelung, Kfz- und/oder Zulassungssteuer gestaffelt nach Gewicht, Größe und Motorleistung."

Ist es vielleicht an der Zeit, die Realität anzuerkennen und aus Verkehrswende-Sicht die Niederlage des ÖV gegen das private Auto einzugestehen?

Ist es an der Zeit, den Sieg des privaten Autos auszurufen, und wenigstens für seine ökologische Modernisierung, sprich Elektrifizierung zu sorgen, und das möglichst sozialverträglich?

Private PKW ja, aber bitte elektrisch, klein, als Teil des Stromnetzes und mit der Option geteilter Nutzung?

(bme)