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Missing Link: Die verzweifelte Suche nach der neuen Physik

Sabine Hossenfelder
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(Bild: agsandrew/Shutterstock.com)

In der Teilchenphysik gibt es gerade jede Menge "Anomalien", die als Hinweis auf eine neue Physik interpretiert werden. Sabine Hossenfelder widerspricht.

Der Large Hadron Collider (LHC) ist gerade wieder angefahren worden. Während einer dreijährigen Pause, die durch die Pandemie etwas verlängert wurde, haben Physiker zahlreiche kleine Upgrades vorgenommen. Die Protonenkollisionen am LHC sollten nun eine leicht höhere Gesamtenergie erreichen, die Datenaufnahme schneller und die Detektoren empfindlicher sein. Wenn alles läuft wie geplant, wird der LHC im Jahr 2025 dann nochmal für eine Aufrüstung runtergefahren, und von 2027 bis 2029 wesentlich mehr Protonen kollidieren.

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Sabine Hossenfelder

© Joerg Steinmetz

Sabine Hossenfelder ist theoretische Physikerin und widmet sich in ihrer Arbeit vor allem der Quantengravitation und der Physik jenseits des Standardmodells. Gegenwärtig ist sie Research Fellow am Frankfurt Institute for Advanced Studies. 2018 erschien ihr Buch "Das hässliche Universum".

Bis heute hat der LHC erst etwa ein Zehntel der Daten gesammelt, für die er konstruiert wurde. Da die Gesamtenergie der Kollisionen aber nicht maßgeblich gesteigert werden kann – dazu bräuchte man einen größeren Beschleuniger – bedeutet das vor allem, dass jetzt die Statistik der Daten verbessert wird. In jedem Datenset gibt es Fluktuationen, die von den Vorhersagen abweichen. Je mehr Daten man hat, desto genauer weiß man, was nur eine Fluktuation war. Wenn der LHC also jetzt weitere Daten sammelt, dann kann man damit vor allem schwache und seltene Signale herausarbeiten, die sonst im Rauschen untergehen würden.

Tatsächlich haben Teilchenphysiker einige solche Anomalien in den Daten, von denen sie derzeit nicht wissen, ob sie neue Physik sind, oder doch nur zufällige Ansammlungen von Messergebnissen.

So gibt es zum Beispiel schon seit den ersten LHC-Ergebnissen Hinweise darauf, dass die Zerfälle von einigen zusammengesetzten Teilchen – den sogenannten B-Mesonen – nicht so stattfinden, wie das Standardmodell der Teilchenphysik vorhersagt. Diese Anomalie ist derzeit aber nicht statistisch signifikant.

In der Teilchenphysik wird die statistische Signifikanz einer Anomalie in der Regel mit Standardabweichungen quantifiziert und in Vielfachen von Sigma angegeben. Je mehr Sigma die Abweichung, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Anomalie nicht dem Zufall zugesprochen werden kann. Die Signifikanz der B-Mesonen Anomalie ist zwischen 3 und 4 Sigma geblieben – eine neue Entdeckung würde 5 Sigma verlangen – aber verschwunden ist sie auch nicht.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Zudem gibt es schon seit 20 Jahren Ungereimtheiten mit Messungen an einem der elementaren Teilchen, dem magnetischen Moment des Myons, die sich vergangenen Jahr mit einer neuen Messung bestätigte [13]. Diese Messungen werden nicht mit Teilchenkollisionen gemacht, aber auch hier passt das Ergebnis nicht mit dem Standardmodell zusammen. Die statistische Signifikanz der Myonen-Anomalie ist mit 4,2 Sigma aber wieder nicht hoch genug, um von einer neuen Entdeckung zu reden.

Seit vergangenem Monat gibt es eine neue Anomalie in der Teilchenphysik, diesmal in der Messung der Masse des W-Bosons [14]. Das neue Ergebnis kommt nicht von einem neuen Experiment; es ist eine neue Analyse von Daten aus einem Experiment, das schon vor mehr als 10 Jahren eingestellt wurde: Der Teilchenbeschleuniger "Tevatron" beim Fermilab in den Vereinigten Staaten.

Der Tevatron erreichte Kollisionsenergien von etwa einem Tera-Elektronenvolt, kurz TeV, daher der Name. Er war im Grunde ähnlich zum LHC, kollidierte aber Protonen und Antiprotonen, wohingegen der LHC Protonen mit Protonen kollidiert. Der Tevatron war auch ein Ringbeschleuniger, jedoch "nur" mit einem Umfang von etwa 6 Kilometern. Mit etwa 27 Kilometern Umfang und etwas stärkeren Magneten erreicht der LHC Gesamtenergien, die mehr als zehnmal so hoch sind, wie die des Tevatron.

Trotzdem war die Energie am Tevatron hoch genug, um fast alle der Teilchen des Standardmodells zu messen – bis auf das Higgs, was erst am LHC bestätigt wurde. Die neu analysierten Tevatron-Daten wurden von 2002 bis 2011 in von der Kollaboration des CDF-Experiments gesammelt. Während dieser Zeit wurden dort etwa 4 Millionen W-Bosonen gemessen.

Das W-Boson ist eines der Teilchen im Standardmodell. Es gehört zu denen, die die schwache Kernkraft vermitteln. Es ähnelt also dem Photon, hat aber eine Masse und ist extrem kurzlebig. Es taucht daher eigentlich nur in Teilchenbeschleunigern auf (oder, sehr selten, in kosmischer Strahlung).

Der Wert der Masse des W-Bosons hängt mit anderen Parametern im Standardmodell zusammen, die ebenfalls schon gemessen wurden. Es ist also kein unabhängiger Parameter, sondern muss zu den anderen passen. (Genau gesagt gibt es zwei W-Bosonen mit unterschiedlicher elektrischer Ladung, aber da deren Masse dieselbe sein sollte, ist das hier nicht so relevant.)

Die Masse des W-Bosons wurde bereits einige Male zuvor gemessen, und liegt diesen Messungen zufolge bei etwa 80 GeV. Zum Vergleich: Die Masse des Protons ist etwa ein GeV. Wenn ein W-Boson also in einer Protonenkollision erzeugt wird, kommt die meiste Masse aus der kinetischen Energie der Protonen.

Die früheren Messungen der W-Boson Masse waren mit dem Standardmodell kompatibel. Die Autoren der neuen Studie behaupten aber nun, eine Abweichung vom Standardmodell mit 7 Sigma gefunden zu haben, weit über der Entdeckungsschwelle von 5 Sigma.

Der Mittelwert der neuen Messung ist mit 80,433 GeV um etwa 0,076 GeV höher als die Erwartung vom Standardmodell. Tatsächlich ist das aber ähnlich zu den Ergebnissen von einigen früheren Datenanalysen. Das Erstaunliche an der neuen Analyse ist auch nicht der Mittelwert, sondern der kleine Fehlerbalken von lediglich 0,009 GeV. Dass der Fehlerbalken so klein ist, ist der Grund, warum dieses Ergebnis eine so hohe statistische Signifikanz hat, was für die früheren Messungen nicht der Fall war.

Wie haben die Forscher es geschafft, den Fehlerbalken so klein zu bekommen? Nun, zum einen haben sie eine Menge Daten. Aber sie haben auch viele Kalibrierungsabgleiche mit anderen Messungen durchgeführt, was im Grunde bedeutet, dass sie sehr genau wissen, wie man die physikalischen Parameter aus den Rohdaten extrahiert. Oder zumindest glauben sie, dass sie das wissen.

Ist das möglich? Durchaus. Ist es richtig? Es könnte richtig sein. Ich persönlich bin aber sehr skeptisch, dass dieses Ergebnis Bestand haben wird. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass die Gruppe den Messfehler unterschätzt hat, und das Ergebnis tatsächlich mit den anderen Messungen – und dem Standardmodell – kompatibel ist.

Aber nehmen wir mal an, die neue Messung der Masse des W-Bosons ist richtig. Was würde das bedeuten?

Es würde bedeuten, dass das Standardmodell falsch ist, weil es eine Messung geben würde, die nicht mit den Vorhersagen der Theorie zusammenpasst. Was dann? Nun, dann müssten wir das Standardmodell verbessern. Theoretische Teilchenphysiker haben dazu viele Vorschläge gemacht. Der populärste davon ist seit langem die Supersymmetrie. Sie ist auch eine der möglichen Erklärungen für die neue W-Bosonen-Anomalie, die die Autoren der Studie diskutieren.

Man muss aber wissen, dass Supersymmetrie selbst keine Theorie ist. Sie ist lediglich eine Eigenschaft einer Klasse von Modellen. Und diese Klasse von Modellen ist sehr groß. Alle diese supersymmetrischen Modelle haben gemeinsam, dass sie für jedes Teilchen im Standardmodell ein neues Partnerteilchen einführen. Und dann gibt es meistens noch ein paar neue Teilchen dazu. Kurz gesagt bedeutet Supersymmetrie also: viele neue Teilchen.

Was die Vorhersagen eines supersymmetrischen Modells sind, hängt dann stark von den Massen dieser neuen Teilchen ab, und davon, wie sie zerfallen und interagieren. Weil supersymmetrische Modelle so vielzählig und flexibel sind, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit für jede Anomalie irgendein supersymmetrisches Modell finden, das die Anomalie "erklärt". Leider ist es aber so, dass Modelle, die alles erklären können, eigentlich nichts erklären. In anderen Fachbereichen heißt das Overfitting und wird vermieden, weil man nichts davon lernt. In der Teilchenphysik kann man mit Overfitting Karriere machen.

Deshalb wird die Supersymmetrie mit jeder Anomalie in einem Atemzug erwähnt: weil man damit so ziemlich alles erklären kann, wenn man sich nur genug anstrengt. Könnte die 4,2-Sigma-Abweichung vom Standardmodell im magnetischen Moment des Myons Supersymmetrie sein? Ja. Könnte die B-Meson-Anomalie Supersymmetrie sein? Klar doch. Könnte die neue W-Boson Anomalie Supersymmetrie sein? Aber sicher.

Wissen wir in einem dieser Fälle tatsächlich, dass es Supersymmetrie sein muss? Nein. Es gibt viele andere Modelle, die man sich als "Erklärung" zusammenfummeln kann. Tatsächlich erwähnen die Autoren der neuen Messung der W-Bosonen-Masse auch einige andere mögliche Erklärungen: zusätzliche Skalarfelder, ein zweites Higgs, dunkle Photonen, zusammengesetztes Higgs und so weiter. Es gibt Tausende dieser Modelle in der Teilchenphysik. Seitdem die neue Anomalie veröffentlicht wurde, haben Teilchenphysiker schon ein paar Dutzend weitere gebastelt. Ich verstehe nicht, wieso solch sinnlose mathematische Spielereien nach wie vor veröffentlicht werden. Es ist Zeitverschwendung und der Grund, wieso ich nicht mehr in der Teilchenphysik arbeite. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Wenn die Messung der W-Bosonen-Masse richtig ist, wissen wir nicht, was los ist. Und ich glaube nicht, dass irgendeine der derzeit vorgeschlagenen Erklärungen richtig ist.

Es ist durchaus möglich, dass die neuen Daten vom LHC aufzeigen werden, dass das Standardmodell doch nicht richtig ist. Das wäre ein großer Durchbruch und könnte die Teilchenphysik retten. Mit dem Higgs ist das Standardmodell jedoch vollständig und in gutem Zustand, und es gibt keinen Grund, warum es noch mehr neue fundamentale Teilchen im Energiebereich des LHC geben sollte. Wahrscheinlicher ist daher, dass der LHC eine Reihe von Anomalien findet, von denen man nicht genau sagen kann, ob sie nun zufällige Ansammlungen von Messergebnissen sind, oder doch Hinweise auf neue Physik. Wann dann? Nun, dann werden Teilchenphysiker nach Geld für einen größeren Teilchenbeschleuniger fragen. Es ist daher gut, im Hinterkopf zu behalten, dass es immer Anomalien gibt. Sie kommen, und manchmal bleiben sie. Aber meistens gehen sie wieder.

(mho [15])


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[7] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Urknalltheorie-warum-uns-die-Dunkle-Energie-das-Licht-abdreht-6371320.html
[8] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Ist-das-Universum-ein-Donut-6535817.html
[9] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Zeit-Entropie-und-warum-es-uns-vielleicht-gar-nicht-gibt-6587344.html
[10] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Bis-ans-Ende-der-Zeit-die-Geschichte-unseres-Universums-Teil-1-6658429.html
[11] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Bis-ans-Ende-der-Zeit-die-Geschichte-unseres-Universums-Teil-2-6664560.html
[12] https://www.heise.de/thema/Missing-Link
[13] https://www.heise.de/news/Teilchenphysik-Myonen-Experiment-am-Fermilab-deutet-auf-neue-Physik-hin-6009336.html
[14] https://www.heise.de/news/Problem-fuers-Standardmodell-Bislang-praezisester-Wert-fuer-Masse-dss-W-Bosons-6667240.html
[15] mailto:mho@heise.de