Missing Link: Das Rätsel Dunkle Materie – und wenn es sie gar nicht gibt?
Auch wenn es als sicher gilt, dass es Dunkle Materie gibt, so bleiben doch unbeantwortete Fragen und Widersprüche. Manche schlagen deswegen Alternativen vor.
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Eine Galaxie, so dünn, dass man durch sie hindurch auf die dahinter liegenden Spiralnebel schauen kann – das ist NGC 1052-DF2 ist eine Ultradiffuse Galaxie in der Nähe der elliptischen Galaxie NGC 1052. Sie ist fast so groß wie die Milchstraße, hat jedoch mit 200 Millionen Sonnenmassen nur 1/8000 von deren Masse, und anscheinend ist sie weitgehend frei von Dunkler Materie. Die Sterne bewegen sich hier so, wie es das Gravitationsgesetz von Isaac Newton verlangt. Um die Galaxie entspann sich in den letzten Jahren ein Streit, denn Vertreter der Dunklen Materie sehen sich durch die Abwesenheit derselben in DF2 darin bestätigt, dass es Dunkle Materie gibt, während Anhänger eines modifizierten Newtonschen Gesetzes sich bestätigt sehen, weil die Sterne sich streng nach Sir Isaac bewegen…
(Bild: NASA, ESA, and P. van Dokkum (Yale University), CC BY 4.0)
Wie groß ist das Universum? Woraus besteht es? Wie ist es entstanden und wie wurde es so, wie wir es heute kennen? Mit diesen Themen beschäftigt sich die Kosmologie, die Lehre von der Entstehung und Entwicklung des Universums. Sie ist derzeit eine der spannendsten Disziplinen der Naturwissenschaft, und sie spannt einen Bogen von der Physik des Allerkleinsten zu den größten Strukturen, die wir kennen. Die neue Artikelreihe skizziert den derzeitigen Stand des Wissens und legt dar, warum die große Mehrheit der Kosmologen scheinbar so absurden Ideen anhängt wie von leerem Raum mit abstoßender Gravitation, der Entstehung des Universums aus dem Nichts und dem unsichtbaren Stoff, aus dem 95 Prozent des Universums bestehen. In den ersten drei Teilen wird es um die Dunkle Materie gehen – den unsichtbaren Elefanten der Kosmologie.
- Der unsichtbare Elefant der Kosmologie
- Auf der Jagd nach einem Gespenst
- Und wenn es sie gar nicht gibt?
Dunkle Materie – Alles in Butter. Oder nicht?
Im ersten Teil der Artikelreihe über die Dunkle Materie haben wir Beobachtungen kennengelernt, die zu der Annahme geführt haben, dass 80 Prozent der Materie im Universum unsichtbar sind und sich nur durch ihre Schwerkraft verraten. Neben seinem Einfluss auf die Geschwindigkeiten von Galaxien in Galaxienhaufen und den Rotationskurven von Galaxien verbiegt dieser rätselhafte Stoff die Wege des Lichts und verzerrt die Bilder von Objekten im Hintergrund näher gelegener Galaxien, deren Licht diese Galaxien auf dem Weg zu uns passiert. Aufgrund dieser Verzerrungen können wir mit Computerhilfe ihre Verteilung im Raum rekonstruieren. Woraus sie besteht, ist jedoch nach wie vor vollkommen unklar. Sicher wissen wir lediglich, dass es sich nicht um Gas, Planeten oder dunkle Sternenreste handeln kann. Die Theorie der Nukleosynthese beim Urknall kann präzise den Ursprung der über 6 Zehnerpotenzen streuenden Häufigkeiten der leichtesten Atomkerne rekonstruieren – sie setzt der aus Baryonen (Quarks) bestehenden gewöhnlichen Materie jedoch eine Obergrenze von 20 Prozent derjenigen Masse, die sich durch ihre Schwerkraft verrät.
Entweder muss es sich um submikroskopische Schwarze Löcher von Asteroidenmasse handeln, die noch vor den Kernteilchen beim Urknall entstanden sind, oder um eine neue Art von Teilchen jenseits des Standardmodells, auf deren Entdeckung Physikerinnen und Physiker ohnehin warten, denn das Standardmodell hat ein paar Erklärungslücken. Das Problem ist nur: keines dieser Teilchen, vom Teraelektronenvolt schweren Susy-Teilchen bis zum Mikroelektronenvolt leichten Axion hat sich bisher je in irgendeinem Experiment blicken lassen, und an solchen herrscht kein Mangel. Dennoch: packen wir 400 Prozent zusätzliche, dunkle Materie (sowie Dunkle Energie) in unsere Gleichungen und Simulationen, können wir neben den Geschwindigkeitsanomalien der Galaxien die Entstehung der Strukturen in der kosmischen Hintergrundstrahlung und die daraus hervorgegangene großräumige Struktur des Universums rekonstruieren, die ohne Dunkle Materie ganz anders aussähe.
Das wissen wir aus Simulationen, in welche seit der Jahrtausendwende, als die Rechner schnell genug wurden, die Bewegung von Millionen von Massenpunkten im wechselseitigen Schwerefeld zu errechnen, alle relevanten Naturgesetze und Ingredienzien, die aus Beobachtungen bekannt waren, hineingesteckt wurden. Modellierungen wie Millennium (2005 bis 2010) oder Illustris (2013 bis 1017) reproduzierten nicht nur die zu Filamenten angeordneten Galaxienhaufen und die dazwischen liegenden Leerräume (Voids), sondern auch die verschiedenen Typen von Galaxienformen: Spiralgalaxien mit mehr oder weniger ausgeprägtem Kernbereich wie die Sombrero-Galaxie beziehungsweise die Andromeda-Galaxie, elliptische Galaxien wie Messier 87, sowie irreguläre wie die Magellanschen Wolken. Also alles in Butter?
Vier harte Nüsse für Dunkle Materie
Nicht ganz: gemäß Simulationen, die sich auf die Galaxienentstehung in einem lokalen Volumen beschränken, sollte die Dunkle Materie auf allen möglichen Skalen kondensieren. Neben den großen Galaxien-Halos aus Dunkler Materie entstünden um sie herum Subhalos verschiedenster Größen. Diese würden gewöhnliche baryonische Materie zu sich hinziehen, welche zu Sternen kollabieren und so zahlreiche Satellitengalaxien um die großen Galaxien hervorbringen sollten. Je kleiner diese Galaxien sind, desto mehr von ihnen sollten entstanden sein. Bis hinunter zur Grenze von 10 Millionen Sonnenmassen an Dunkler Materie, unterhalb der sie das einfallende, sich durch Kompression aufheizende baryonische Gas nicht mehr mit ihrer Schwerkraft festhalten kann. Auf eine Galaxie wie die Milchstraße sollten jedoch rund 1000 Zwerggalaxien mit mehr als 10 Millionen Sonnenmassen kommen.
(Bild: James S. Bullock & Michael Boylan-Kolchin, 2017)
In der Umgebung der Milchstraße finden sich jedoch gerade einmal etwa 50 Galaxien – mehr als eine Größenordnung an Diskrepanz, die sich nicht so leicht wegdiskutieren lässt. Das Problem ist als "fehlende Satellitengalaxien" ("Missing Satellites") bekannt.
Als Lösung für die fehlenden Zwerggalaxien wurde vorgeschlagen, dass die Dynamik der Sternentstehung in den kleineren Dunkle-Materie-Subhalos dafür gesorgt habe, dass das baryonische Gas von massiven Sternen aus ihnen hinausgeblasen wurde, denn die massivsten Sterne haben starke Sternwinde, kräftige ionisierende UV-Strahlung, die das Gas aufheizt, und sie sind so kurzlebig, dass sie schon als Supernovae explodieren, während der Großteil der kleineren Sterne noch gar nicht entstanden ist. Dadurch sei die weitere Sternentstehung abgewürgt worden und kleine Subhalos konnten mithin keine Zwerggalaxien bilden. Dann sollten die beobachtbaren Satellitengalaxien der Milchstraße denjenigen in der Simulation mit den größten Massen entsprechen. Das ist jedoch nicht der Fall: Die Umlaufgeschwindigkeiten der Sterne in den Satellitengalaxien der Milchstraße sind etwa nur halb so groß wie die in den größten simulierten Satellitengalaxien. So massive Subhalos können nicht daran gescheitert sein, dass die Sternentstehung ihr Wasserstoffgas ausgetrieben hat – sie waren "zu groß, um fehlzuschlagen". Daher wird dieses Problem als "Too Big to Fail"-Problem bezeichnet. Anders ausgedrückt sind die größten Satellitengalaxien der Milchstraße signifikant zu leicht im Vergleich zur Simulation. Dies gilt gleichermaßen für die Satelliten der Andromedagalaxie und anderer Galaxien der Lokalen Gruppe.
Die Simulationen sagen weiterhin voraus, dass sich die Dunkle Materie im Zentrum von Galaxien stark konzentrieren sollte, sodass sich ein spitzer Höcker (engl. cusp) ihrer Dichte im Kernbereich (engl. core) der Galaxie wiederfinden sollte. Aus den Rotationskurven der Galaxien wurde jedoch ersichtlich, dass die Masseverteilung in Galaxienkernen ein deutlich flacheres Profil zeigt. Diese Diskrepanz ist als "Cusp-Core-Problem" bekannt.
(Bild: James S. Bullock & Michael Boylan-Kolchin, 2017)
Schließlich soll nach Arbeiten von Kroupa, Müller und anderen eine von ihnen gefundene scheibenförmige Anordnung der Satellitengalaxien nicht verträglich mit der Entstehung aus Halos und Subhalos von Dunkler Materie sein. Nach ihrer Ansicht soll es gar keine Dunkle Materie geben, sondern die Galaxien sollen ohne Umweg aus kollabierendem Wasserstoff-Helium-Gas entstanden sein und die Zwerggalaxien das Resultat von Interaktionen großer Galaxien wie etwa der Andromeda-Galaxie und der Milchstraße sein, die sich bei Begegnungen gegenseitig Sterne und Gas entrissen haben sollen, aus denen die Satellitengalaxien entstanden seien. Diese seien dann natürlicherweise in der Bahnebene konzentriert, in der die Begegnung stattgefunden habe.
Und was ist mit den beobachteten Effekten der Dunklen Materie? Den flachen Rotationskurven, den hohen Geschwindigkeiten in Galaxienhaufen? Dazu bedürfe es keiner zusätzlichen Materie – das Newtonsche Gravitationsgesetz sei vielmehr das Problem. Es müsse modifiziert werden.
Ein Gesetz, sie alle zu binden
Schon 1982 war dem israelischen Physiker Mordehai Milgrom die Dunkle Materie suspekt. Er schlug als Alternative vor, dass Newtons vielfach getestetes Gravitationsgesetz, mit dessen Hilfe Raumsonden erfolgreich mit Kilometergenauigkeit durch das Sonnensystem navigiert werden, modifiziert werden müsse, daher der Name "MOdifizierte Newtonsche Dynamik", kurz MOND (da der Begriff im Original englisch ist, gibt es die Doppeldeutigkeit mit unserem Erdtrabanten dort nicht und man spricht die Abkürzung wie das "mond" in Redmond). Unterhalb einer Gravitationsbeschleunigung von a0=10-10 m/s² (also rund 10 Billionstel der Erdschwerkraft) beginne eine MONDsche Zone mit einem modifizierten Gravitationsgesetz. a0 entspricht ungefähr der Schwerebeschleunigung, welche die Sonne bei ihrem Umlauf um das Milchstraßenzentrum erfährt (0,1 Nanometer/s² oder 1 m/Tag²); dieser Wert ist von ähnlicher Größe wie die wechselseitige Gravitationskraft zweier DIN A4-Seiten Papier in unmittelbarer Nachbarschaft, und er beträgt nur 1/40.000 der Schwerkraft, die Pluto von der Sonne spürt, weshalb MOND im Sonnensystem keinen messbaren Einfluss zeigt.
Dazu führte Milgrom einen Korrekturterm µ(a/a0) in Newtons Kraftgesetz FG= m·a ein, also FG= m·µ(a/a0)·a, in den die Newtonsche Schwerebeschleunigung a = GM/r² und die Grenzbeschleunigung a0 eingehen (m ist die Masse eines Objekts im Schwerefeld der Zentralmasse M, r ist die Entfernung zwischen den beiden Massen und G ist die Gravitationskonstante). Für kurze Entfernungen, bei denen die Schwerkraft a sehr viel größer als a0 ist, konvergiert µ(a/a0) gegen 1, es kommt das gewöhnliche Newtonsche Gesetz heraus. Ist a=a0, so ist die MONDsche Gravitation nur noch halb so groß wie die Newtonsche, und für noch kleinere a strebt µ(a/a0) gegen a/a0. Dies sorgt dafür, dass die Schwerkraft nicht wie bei Newton mit dem Quadrat der Entfernung r abnimmt, sondern nur linear mit r. Wendet man Milgroms MOND-Gesetz auf die Rotation von Galaxien an, so ergibt sich ganz ohne Dunkle Materie eine flache Rotationskurve. MOND ist sehr erfolgreich darin, die Rotationskurven von Galaxien zu reproduzieren, und schafft dies mit Einschränkungen auch für die Dynamik von Galaxienhaufen (es braucht zusätzlich noch etwas nichtleuchtende Materie, aber hier würde dunkle baryonische Materie eventuell noch reichen).