Missing Link: EU Chips Act - Dekarbonisierung, Digitalisierung, Diversifizierung

Russlands Angriffskrieg und Chinas Marktmacht sind nur zwei der Schmerzpunkte, die Europa mit einer neuen Wunderdroge heilen will: Diversifizierung.​

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Reinraum eines Halbleiterwerks

Im Reinraum eines Halbleiterwerks.

(Bild: PastryShop / Shutterstock)

Lesezeit: 9 Min.
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Wir sind abhängig. Nein, es geht nicht um die geplante Cannabis-Teillegalisierung. Sondern um das, was derzeit auf allen Ebenen gefordert wird: weniger Abhängigkeit von böswilligen, rivalisierenden oder anderen Staaten auf der ganzen Welt. Diversifizierung ist das Zauberwort, mit dem künftig verhindert werden soll, dass Deutschland und Europa bei Wegfall einzelner Anbieter oder Lieferländer nicht mehr so funktionieren, wie das eigentlich gedacht ist.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Abhängigkeiten sind Machtverhältnisse, das gilt in der Wirtschaft genauso wie in der Politik. Und der Großangriff Russlands auf die Ukraine, die ausfallenden Gaslieferungen, die Corona-Erfahrungen, all das macht Diversifizierung populär. Endlich, rufen die einen, wird das Problem angegangen. Zu einem Zeitpunkt, an dem gerissene Lieferketten Deutschlands Wohlstand temporär bedrohten, als das Gas plötzlich teuer wurde, wo selbst einfachste Medikamente plötzlich knapp sind.

"Dekarbonisierung, Digitalisierung und Diversifizierung" seien für ihn zentrale Anliegen, meint etwa Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) beim Besuch der Hannover Messe vor wenigen Tagen. Der berühmt gewordene Chipmangel hat die Politik dazu veranlasst, mit der ihr eigenen Maximalgeschwindigkeit neue Wege zu gehen. Am Mittwoch einigten sich die Verhandler von EU-Mitgliedstaaten und Europaparlament auf den Chips Act, mit dem Europa die Antwort auf den großen Sprung der chinesischen Halbleiterindustrie wagen will.

Damit wird der Weg frei für Milliarden Euro Subventionen, um Teile der Produktion von Halbleiterprodukten wieder in Europa anzusiedeln. Die Idee: Spitzentechnologie soll in Europa nicht länger nur designt, sondern auch produziert werden. Die Hoffnung: Dann wirken Anziehungskräfte. Kommt ein relevanter Teil - also etwa die Chipfabrik nach Magdeburg und das Packaging nach Italien – folgt der Rest der Kette von allein.

Auch in anderen Bereichen will die Politik die heimische Produktion wieder ankurbeln. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wünscht sich, dass wichtige Medikamente zu einem wesentlichen Teil wieder in Europa hergestellt werden. Damit das auch tatsächlich stattfindet, hat sich das Gesundheitsministerium einen Plan ausgedacht: Bei der Ausschreibung von Medikamentenbeschaffung über die Krankenkassen sollen die Anbieter die Hälfte aus Europa beziehen. Für den Anfang soll das für patentfreie Antibiotika gelten. Aber ob das so gut klappt? So ganz sicher scheint sich da auch der Minister nicht zu sein: Die Idee auch gleich auf Krebsmedikamente auszuweiten, hat er vorerst verschoben.

Denn das Problem steckt nicht im Wunsch nach Diversifizierung und Reshoring, sondern in dessen realer Umsetzung. Und die wird durch die umständlichen politischen Phrasen erschwert. Denn statt klarer Ansagen, die diplomatische Verwerfungen mit sich brächten, wird die Hintertür genutzt. China etwa kann sich aussuchen, als was es sich verstehen möchte: Die Bundesrepublik betrachtet die Volksrepublik als Wettbewerber, Partner und "zunehmend als systemischen Rivalen". So zumindest umschreibt das die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne).

Was das genau heißt, ist so unklar wie der Veröffentlichungszeitpunkt der längst fälligen China-Strategie der Bundesregierung. Klar ist nur: Wer sich zu sehr auf China verlässt, könnte irgendwann als Lakai der Staats- und Parteiführung in Peking enden. Das soll vermieden werden – aber wie genau?