Missing Link: Hongkong – Geburt und Sterben des freien Internets

Nach den deutschen Internetpionieren stellen wir Internetgründer aus anderen Teilen der Welt und des Netzes vor. Folge eins: Charles Mok – Hongkong.

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(Bild: NicoElNino/Shutterstock.com)

Lesezeit: 44 Min.
Von
  • Monika Ermert
Inhaltsverzeichnis

Charles Mok wird nicht müde zu unterstreichen, dass es ein weltweites Phänomen ist, dass Regierungen sich die Kontrolle über das Internet zurückholen. In Hongkong aber hat er den Trend als ISP der ersten Stunden am eigenen Leib erlebt. Nach Unternehmensgründung und erstem Firmenverkauf hat der Hongkonger versucht, politisch das freie Netz – und das freie Hongkong – zu retten, und sich sehr bewusst auf die Seite der Zivilgesellschaft gestellt.

2020 kam der große Knall und der Rückzug aus dem Legislativrat von Hongkong (LegCo), dem er acht Jahre angehört hat. Er habe für seine neue Tätigkeit ein "freieres Umfeld" gebraucht, sagt er im Interview mit heise online. Er forscht heute in Stanford und ist Mitglied im Vorstand der internationalen Internet Society.

Transkript des Interviews auf Englisch / English transcript.

Unsere Serie deutscher Internetpioniere:

heise online: Eine Vorabfrage, Sie sind in Hongkong geboren und zur Schule gegangen. Heute leben Sie in Kalifornien. Wann haben Sie Hongkong verlassen?

Charles Mok: Ich arbeite seit Mai 2021 am Cyber Policy Center der Stanford Law School. Ich forsche dort zu den Themen Internet, Politik und die Entwicklungen des Cyberspace in Asien. Ich beschränke mich nicht auf Hongkong und China.

War ihr Ausstieg aus dem Hongkonger Parlament, dem LegCo, ein Grund für ihre Abreise?

Charles Mok

Ich habe mein Amt im LegCo im Dezember 2020 niedergelegt. Tatsächlich war ich zu der Zeit bereits auf dem Absprung aus der Politik. Ich habe vor meiner Tätigkeit als Abgeordneter in der IT-Industrie gearbeitet und dann habe ich mich zivilgesellschaftlich engagiert. Ich hatte fest vor, noch einmal etwas ganz anderes zu machen. Natürlich wäre, was ich jetzt tue, im aktuellen Klima Hongkongs nicht in der Form möglich. Ich habe also wohl schon nach einem etwas offenerem Umfeld Ausschau gehalten. Allerdings ist für mich der Sprung von Hongkong in die USA fast so etwas wie ein Heimkommen. Denn ursprünglich war ich ja 1994 aus den USA nach Hongkong zurückgegangen. Die Stelle in Stanford, die man mir angeboten hat, kam mir also gerade recht, um mich an die geplanten Arbeiten zu machen.

Wie sieht ihr langfristiger Plan aus? Ist eine Rückkehr nach Hongkong noch eine Option?

Ich werde ein paar Jahre hier bleiben. Aber ich reise viel. Gerade habe ich mir die spannenden Entwicklungen der digitalen Ökosysteme in Japan und Taiwan angeschaut und die dortigen Transformationsprozesse. Ich interessiere mich in erster Linie für die politischen und regulatorischen Schritte, aber die Transformationsprozesse innerhalb der Regierung und der Wirtschaft sind ja damit verknüpft. Während meiner Abgeordnetentätigkeit konnte ich kaum reisen. Der Zeitplan dafür ist einfach zu dicht, es ist ein bisschen wie in der Schule. Daher genieße ich jetzt die Möglichkeiten, die mein neuer Job mit sich bringt.

Können Sie auch nach Hongkong reisen?

Das sollte leicht möglich sein. Aber sagen wir mal, es ist auch eine Entscheidung, ob man gerade jetzt hinfahren will oder nicht.

Seit wann nutzen Sie das Internet?

Ich bin in Hongkong aufgewachsen und zur Schule gegangen. In den späten Siebzigern gab es dort keine Computer an den Schulen. In meiner Highschool-Zeit gab es zwei Mitschüler, deren Familien sich einen Commodore oder Atari leisten konnten. Ich erinnere mich, dass wir die bei Besuchen in Augenschein genommen haben. Obwohl die betreffenden Mitschüler darauf nicht nur spielten, fanden wir das aber irgendwie noch wenig beeindruckend. Meine erste Begegnung mit dem Internet hatte ich, als ich anfing, Elektrotechnik an der Purdue Universität in den USA zu studieren. Ich belegte gleich im ersten Jahr einen Programmierkurs und hatte anfangs wirklich keinen blassen Schimmer. Denn ich hatte vorher noch nie mit einer Tastatur gearbeitet, wenn man mal von einer klassischen Schreibmaschine absieht. Wir arbeiteten an virtuellen Terminals, die mit einem Host verbunden waren. Wir nutzten bereits UNIX und der Host war ans Internet angeschlossen, anders als der Atari bei meinen Hongkonger Freunden. Das war 1983, also vor 40 Jahren.

Wie haben Sie das Internet am Anfang genutzt?

Ich habe versucht, meinen Freunden, die sich an anderen US-Unis eingeschrieben hatten, E-Mails zu schicken. Später auch Freunden in Hongkong. Aber meine ersten E-Mails gingen nach New York oder New Jersey (lacht). Es ist schon ziemlich lustig, dass wir uns anfangs erst mal unsere E-Mail-Adressen per Brief mitgeteilt haben. Damals war das mit den E-Mail-Adressen ja nicht so einfach. Die simplen E-Mail-Adressen (name@domain.tld), das gab es erst später. Wir mussten die Hosts auf dem Weg zwischen Sender und Empfänger nacheinander eintragen. Man hat praktisch die Route für die E-Mail durch Trial-and-Error herausbekommen. Wir nutzen UUCP (Unix to Unix Copy Protokoll). Wir haben uns auch schon mal angerufen, um gemeinsam herauszufinden, wie wir uns die E-Mails schicken konnten.

Haben Sie dann innerhalb der Elektrotechnik IT als Spezialisierung gewählt?

Ich studierte Computer und Elektrotechnik, so hieß das damals. Meinen Schwerpunkt habe ich mehr auf die Software, und nicht die Hardware, gelegt.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Warum haben Sie sich für dieses Studienfach entschieden?

Gute Frage. Es war keine sehr reflektierte Entscheidung. Wenn ich mich mit den Studierenden von heute vergleiche, dann sind die viel besser vorbereitet. Wir hatten nicht viel Ahnung, was uns erwartet. Heute planen die Studierenden schon von Anfang an, welchen Master sie machen wollen und welche Universität dafür am besten ist. Sie überlegen, welche Berufsmöglichkeiten sie damit haben. Ich wusste nicht, was aus mir wird, wenn ich mal fertig bin. Und natürlich gab es kaum Vorbilder für uns und wir hatten längst die nicht Informationsfülle, aus der die Studierenden heute schöpfen, wenn sie sich für ein Studium entscheiden. Es war eine einfachere Zeit. Manchmal möchte ich Studierenden sagen, sie sollen einfach loslegen und nicht versuchen, alles vorher durchzuplanen. Was wir in den 80ern definitiv nicht geahnt haben, war, wie wichtig Computer und Informationstechnologie für das Leben der Menschen später werden würde. Es gab wirklich sehr wenige, die überhaupt versucht haben, Vorhersagen über die Bedeutung der Spielzeuge zu machen, an denen wir da herumbastelten.

Sie haben in den ersten Jahren in den USA gearbeitet?

Ja. Mein erster Job war bei der Firma Digital Equipment Corp. DEC war ein Riesenunternehmen mit rund 100.000 Menschen, als ich dort anfing. Es war die zweitgrößte Computerfirma nach IBM. Als ich das Unternehmen fünf Jahre später verlassen habe, war der Börsenwert von vielleicht 200 auf etwa zehn Dollar gefallen. Die Geschichte von DEC zeigt, wie volatil der Computermarkt war. Es gab viele solcher Beispiele, meiner Meinung nach meist das Ergebnis verpasster Chancen. Als ich angefangen habe, war DEC bestens positioniert, um im Bereich Halbleiter, Betriebssysteme und Netzwerk durchzustarten. Es verfügte mit seinem firmeninternen Netz praktisch über das größte private Internet weltweit.

Aber die Firma hat sich diese Vorteile nicht zunutze gemacht, um in neue Bereiche zu expandieren. Man wollte auf jeden Fall vermeiden, bestehende Geschäftsbereiche zu kannibalisieren. Es war ein klassischer Fehler. Es gibt so viele Technologien, die aus DEC heraus entstanden sind und in den folgenden zehn Jahren wahnsinnig erfolgreich waren. Windows NT zum Beispiel. DEC hatte entschieden, dass sie nicht weiter in diese Entwicklung investieren wollten, weil sie fürchteten, damit würden sie ihrem VMS schaden (DECs Virtual memory based operating system). Das benutzt heute fast niemand mehr. Eine Reihe von DEC-Ingenieuren wechselte daraufhin zu Microsoft und wurden super erfolgreich. Im Bereich Netztechnologie wurden viele Entwicklungen von einer kleinen Firma mit Namen Cisco übernommen (lacht). Workstations schnitt sich das Unternehmen Silicon Graphics heraus, das allerdings heute auch nicht mehr existiert.

Woran haben Sie selbst gearbeitet?

In den ersten zwei Jahren habe ich in Massachusetts in der Fertigung im Bereich Computer-Hard Discs gearbeitet. Die konnten damals so ungefähr ein Gigabyte speichern, es waren riesige, schwere Dinger. Aber wir haben schon mit Halbleiter-Dünnschicht-Technologie gearbeitet. Der Lesekopf muss für das Auslesen der gespeicherten Information nah genug an der sich drehenden Diskette sein, dass eine Verbindung entsteht, ohne sie zu berühren. Wir haben in einem kleinen Team an der Optimierung der Prozesse gearbeitet, damit wir diese Köpfe, die so groß wie ein halber Fingernagel waren, bekommen haben. Um ganz ehrlich zu sein, fand ich es ein bisschen langweilig. Nach zwei Jahren wechselte ich von der Fertigung in Massachusetts zur Softwareentwicklung an die Westküste. Ich war wieder näher an den Themen Unix-Programmierung und Internet. DEC versuchte zu der Zeit, verlorenen Boden im Bereich Unix und Workstations gutzumachen. Die Nähe zum Silicon Valley hat mir erlaubt, das Durchstarten des Internets zu verfolgen. Zugleich sprachen die Leute zu der Zeit mehr und mehr von einem kleinen Browser namens Mosaic…

Aus dem Netscape wurde …

Genau. Eine Gruppe von Leuten nahm das im National Center for Supercomputing Applications entwickelte Mosaic und fingen an, das zu kommerzialisieren. Daraus wurde Netscape. Wir hörten auch erstmals von so etwas wie einer Suchmaschine. 1992 habe ich DEC dann schließlich verlassen und bin zu einem anderen Unternehmen gegangen, Sun Microsystems. Da habe ich an der Integration von Suns Intel-Plattform gearbeitet. Sun wollte sich damit als Wettbewerber zu Microsoft aufstellen und ein eigenes Betriebssystem anbieten.

Warum sind sie 1994 dann doch zurück nach Hongkong?

Ein Grund war schlicht, dass ich wieder näher bei meiner Familie sein wollte. Außerdem sah ich gute Chancen im neu entstehenden Internetmarkt in Hongkong. Wenn ich heute zurückschaue, wäre mein Leben und meine berufliche Entwicklung wohl ziemlich anders verlaufen, wenn ich in den USA geblieben wäre. Aber ich fand damals, dass es an der Zeit war, die Gelegenheiten auszuloten, die Hongkong bot. Ich fing dort direkt bei einer größeren Unternehmensgruppe an, die im Verlags- und Verkaufsbereich relativ breit aufgestellt war. Schon während meines Einstellungsgesprächs ging es darum, wie man einen Internetprovider aufbauen könnte.

Man wollte einen ISP gründen?

Genau. Das war zu der Zeit noch neu in Asien. In den USA gab es natürlich bereits CompuServe, lokal starteten überall kleine ISPs und auch AT&T stieg in den Markt mit Internetzugängen und E-Mail ein. In Hongkong gab es das damals noch nicht. Wir waren tatsächlich sehr früh dran. Wir waren nicht die allerersten, aber ganz vorn mit dabei. Es gab vielleicht ein Dutzend Unternehmen, die fast zugleich loslegten.

Sie haben dann aber auch Ihren eigenen ISP gegründet, HKNet, oder?

Die Firma hatte mich eigentlich genau dafür eingestellt, ihr ISP-Geschäft zu starten. Wir sind mit HKNet offiziell 1995 angetreten. Allerdings hatte die Firmengruppe wegen einer Reihe von Fehlinvestitionen plötzlich finanzielle Probleme und wollte HKNet nicht mehr finanzieren. Die Leute sprechen mich immer auf mein Start-up an. In Wirklichkeit bin ich aber wohl so etwas wie ein Zufalls-Gründer. In der Folge haben wir dann auch ein paar ziemlich interessante Jahre durchlebt, mit rasantem Wachstum in einem ziemlich schwierigen Umfeld. In den USA kam man leicht an Risikokapital. Investoren scharten sich um das Geschäft mit dem Internet. Die Dotcom-Blase wuchs. Aber in Hongkong und praktisch ganz Asien gab es noch nicht viele, die über das Internet sprachen und noch weniger, die sich trauten zu investieren. Die klassischen Telekommunikationsunternehmen waren besonders skeptisch.

Sie fürchteten um ihre Einkünfte …

Genau. Sie erklärten, das Geschäft mit Internetzugängen sei kein tragfähiges Geschäftsmodell. Das Internet werde nie funktionieren, lautete das Urteil. Ein Telekom-Manager sagte mir, ich müsse doch bloß nachzählen, wie viele Leute Telefon und Fernseher zu Hause hätten, nämlich alle. Aber niemand habe einen Computer. Der Rest ist Geschichte, wie wir heute sagen.

Wer waren denn die ersten Kunden von HKNet?

Das waren tatsächlich hauptsächlich Enduser. Den Bereich Internet für Unternehmen kannten wir zu Beginn einfach nicht. Also stürzten wir uns in den Endkundenmarkt. Wir orientierten uns dabei auch an Wettbewerbern, die schon gestartet waren und versuchten, durch besseren Service und billigere Preise Fuß zu fassen. Wir boten kleine Extras an, etwa eine 24-Stunden-Hotline. Das hatte sonst niemand (lacht). Vor allem aber versuchten wir, billiger zu sein. Hongkongs Regulierer hatte aus Ahnungslosigkeit darüber, was das Internet ist, entschieden, dass es sich dabei um internationale Mehrwertdienste handele. Im Ergebnis bedeutete das, dass ISP als Anbieter solcher internationalen Mehrwertdienste dem Monopolisten Gebühren für die Nutzung der Leitungen zu zahlen hatten. Jede Stunde, die unsere Kunden online waren, kostete 1995 umgerechnet 70 US-Cents. Natürlich waren die Leute damals noch nicht so abhängig wie heute. Trotzdem waren das horrende Kosten. Wir versuchten also, diese Kosten zu drücken, indem wir auf Konkurrenz im Telekom-Markt setzten. Denn genau zu der Zeit wurde der Telekom-Markt in Hongkong langsam liberalisiert.

Der Telekom-Markt wurde noch vor der Übergabe von Hongkong vom Vereinigten Königreich an China liberalisiert?

Ja, und neben dem Monopolisten, der Hongkong Telekom, gab es drei weitere neue Lizenznehmer. Sie waren anfangs klein, aber begannen 1995 gerade, ihre Dienstangebote aufzubauen. Wir gingen also zu einem dieser Netzanbieter. Das Unternehmen war neu, und wir waren neu und wir spekulierten wechselseitig aufeinander. Wir sagten, wir möchten ungern zum Monopolisten gehen, aber könnt ihr uns einen guten Preis machen? Und sie waren bereit, etwas unter den Preis zu gehen, den unsere Wettbewerber bei Hongkong Telekom bezahlten. Beim Monopolisten konnte man nicht verhandeln, da hieß es, das ist der Preis, zahl oder lass es bleiben. So konnten wir mit HKNet an den Start gehen.

Wie schnell ist HKNet gewachsen?

Es war wirklich nicht leicht am Anfang. Das Geschäft boomte zwar, aber wir verdienten einfach kein Geld. Wir haben unsere Nutzerzahlen jedes Jahr verdoppelt – oder sogar mehr als verdoppelt. Aber die Kosten für den Betrieb fraßen alle Einnahmen sofort wieder auf. Es gab ja keine Cloud. Also mussten wir unsere Netzressourcen, Server, Router, Modems, einfach alles kaufen. Die Geräte von Sun Microsystems oder HP, die Router von Cisco, das war irre teuer. Wir mussten die ganzen Modems einkaufen und natürlich die Dial-Up-Leitungen, wie schon gesagt. Für 10.000 Kunden bezahlten wir 1000-2000 Dial-Up-Leitungen. Hinzu kam, dass die Innovationszyklen uns schier umbrachten. Wir mussten praktisch jedes Jahr eine Menge unserer Hardware austauschen. Wir brauchten immer neue Modems, die schnellere Geschwindigkeiten unterstützten. Das ging ganz schnell von 9600 Bits pro Sekunde auf 28k und dann auf 56k. Zeitweise gab es außerdem zwei der drei verschiedene Standards – die waren nicht kompatibel und wir mussten unterschiedliche Leitungen dafür bereithalten.

Was passierte mit ausgemusterter Hardware und Modems?

Die Modems waren wirklich oft nur für ein Jahr in Gebrauch. Also versuchten wir natürlich sie in andere asiatische Länder zu verkaufen. Wenn wir Glück hatten, fanden wir einen Käufer. Die Technik entwickelte sich so schnell. Die Kosten, seinen Provider zu wechseln, waren allerdings auch hoch – die meisten Leute werden sich daran heute nicht mehr erinnern. Das kam der Firma zugute, weil die Zahl unserer Anschlussnehmer stetig wuchs. Nur verdienten wir eben praktisch nichts, weil wir beständig in kurzlebige Hardware reinvestierten. So sah das Geschäft damals einfach aus.

Aber die Dial-Up-Gebühren wurden günstiger, oder?

Wir machten dafür tatsächlich Lobbyarbeit beim Regulierer – nicht beim Monopolisten. Wir wiesen darauf hin, dass die Preise unsinnig sind und tatsächlich wurden sie nach und nach reduziert, bis die Minuten-weise Abrechnung schließlich ganz fiel. Durch diese Lobbyarbeit wurde uns zugleich bewusst, dass es neben technologischen und Marktfragen auch die regulatorische Seite gibt, mit der wir uns auseinandersetzen mussten. Anfangs hatten wir nur mit den Telekom-Regulierern zu tun. Aber im Laufe der Zeit waren es auch andere Aufsichtsbehörden. Denn diese begannen sich damit zu beschäftigen, wie das Internet reguliert werden müsse. Unser Anliegen war natürlich, vor gesetzlichen Regelungen zu warnen, die nicht funktionieren würden. Gesetze gegen Spam oder illegale Inhalte im Netz, Pornografie oder Drogenangebote, dürfen nicht so sein, dass das Internet stranguliert wird. In diesen frühen Zeiten sprachen wir mit Regierung und Behörden und versuchten zu helfen und übermäßige Regulierung zu verhindern.

Es gab also diese freundlichen Konsultationen zwischen ISP und Regierung. Änderte sich das nach der Rückgabe Hongkongs an China 1997?

Es hat sich verändert. Aber am Anfang eigentlich nicht so sehr. In den ersten Jahren nach der Übergabe ging zum Beispiel die Telekom-Liberalisierung normal weiter. Die Preise für Interconnection fielen und das Zusammenschalten von Netzen ging weiter.

Wie viele Angestellte hatte HKNet zu der Zeit?

In unseren Hochzeiten hatten wir 100, vielleicht 150 Leute. Wir waren nicht riesig, hatten aber eine ganz ordentliche Größe. Natürlich haben wir auch kommerzielle Dienste für Firmen und Mehrwertdienste, etwa die Gestaltung von Webseiten, angeboten.

Sie haben HKNet 2000 an die japanische NTT verkauft, richtig?

Ende 1999, Anfang 2000. Wir waren zu spät dran gewesen, um noch an die Börse zu gehen. Aber NTT war damals auf Einkaufstour in verschiedenen Teilen von Asien. Sie haben viele der eingekauften Präsenzen später in NTT Communications, ihren internationalen Arm, eingegliedert. Ich war noch dabei, als sie das erste Rechenzentrum eines ausländischen ISP in Hongkong aufmachten. Ich habe noch geholfen, nach möglichen Standorten zu suchen. Das war in Hongkong ziemlich schwierig.

Weil es wenig Platz gibt in Hongkong?

Raum ist wirklich sehr teuer in Hongkong. Es ist wahnsinnig schwer, etwas zu finden. Wir haben uns alte Industriehallen angesehen, um zu schauen, ob diese in ein Rechenzentrum umgewandelt werden könnten. Aber viele davon waren einfach zu klein oder die Decken waren zu niedrig und entsprachen deswegen nicht den regulatorischen Vorgaben. Die Stromversorgung war ein Problem und die Vibration. Standorte, die vom Verkehr umtost sind, eignen sich nicht für ein Tier 3 oder Tier 4 Data Center – und wo gibt es in Hongkong keinen Verkehr? Wir haben ewig gesucht.

Als Sie HKNet an NTT verkauften, war das schon Teil einer ersten Konsolidierungswelle im ISP Markt in Hongkong?

Wir haben ziemlich spät verkauft. Einige unserer Wettbewerber hatten bereits fusioniert oder waren von anderen Firmen aufgekauft worden. Zugleich hatten wir noch Glück, weil wir gerade noch verkaufen konnten, bevor der Markt eingebrochen ist und das Fenster für solche Verkäufe sich wegen der geplatzten Dotcom-Blase erst einmal geschlossen hat.

Wie war der Preis?

Wir haben noch einen guten Preis bekommen und hatten auch Glück mit NTT, weil das ein großer, stabiler Käufer war. Einige unserer Wettbewerber hatten an andere Große verkauft, zum Beispiel PSI.net. PSI.net war bekannt, ging aber kurz nach den Deals bankrott und ihre Hongkonger Einkäufe verschwanden auch vom Markt. Die Gründer haben vielleicht noch gutes Geld gemacht, aber ihre Firmen waren weg. Es mag sentimental klingen, aber unsere Marke HKNet ist noch heute da. NTT hat es unter diesem Namen weitergeführt. Es existiert bis heute.

Sie sind nach dem Verkauf noch bei NTT geblieben, wie lange?

Ich bin dann relativ schnell ausgeschieden, im April 2001. Das war, als die Dotcom-Blase platze. Den ersten großen Einbruch sahen wir am 8. April. Ich habe danach dann versucht, mit einigen Partnern ein neues Unternehmen zu gründen. Wir wollten einen Managed-Service-Provider an den Start bringen. Aber das Timing war nicht gut. Die Investoren in Asien sahen die Blase platzen und verließen die Szene. In den USA war es anders, da warteten einige nur darauf, dass sich der Markt ein wenig erholte. Und in China starteten einige Unternehmen genau in dieser Zeit, zum Beispiel Alibaba. Die Kosten in China waren gering und die bauten das einfach auf und warteten ab. 2003 oder 2004 waren sie dann schon groß genug, um sich Kapital zu beschaffen oder an die US-Börse zu gehen. Das war schon auch eine spannende Zeit.

Wie hat sich Hongkongs Markt erholt und was haben Sie getan?

Hongkong wurde tatsächlich abgehängt, vor allem weil Investoren zu kurzsichtig waren. Ich versuchte noch ein paar Jahre, mein Start-up aufzubauen. Aber es funktionierte nicht und ich begann, mehr und mehr mit zivilgesellschaftlichen Organisationen rund ums Thema Internet zu arbeiten. Ich gründete das lokale Chapter der Internet Society in Hongkong, praktisch als Reaktion auf wachsende Probleme, die sich für Internet-Unternehmen und Nutzer ergaben. Endnutzer waren mit zunehmenden Beschränkungen konfrontiert. Internetsicherheit wurde ein immer wichtigeres Thema. Zum Teil war das natürlich das Ergebnis der Verbreitung des Internets. Es waren nicht mehr nur große und kleine Firmen, sondern auch Universitäten, Schulen und gesellschaftliche Organisationen, einfach jedermann, die das Netz nutzten. Die Art der Nutzung wurde vielfältiger.

Daher gründeten wir das ISOC-Chapter, was uns zugleich Kontakt mit anderen ISOC-Chaptern in Asien und darüber hinaus brachte. Es ergaben sich Kontakte zur 1998 offiziell gestarteten Intenet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), die für IP-Adressen und Domains verantwortlich wurde. In Hongkong hatte die Regierung da auch gerade den Plan gefasst, die ccTLD für Hongkong .hk zu reformieren.

.hk wurde anfangs vom Joint University Computer Center gemanagt …

Ja. Aber zur Jahrtausendwende schuf die Regierung eine neue Firma, die .hk übernehmen sollte. Sie lud die Wirtschaft in Hongkong ein, sich einzubringen in die Reform. Wir hatten als Unternehmensvertreter und auch als IT-Experten das Gefühl, dass wir etwas beitragen können bei der Entwicklung von Regeln für unseren Sektor. Ich war einige Zeit Direktor der neuen Hongkong Domain Name Registration Company (HKDNR Ltd) und auch Mitglied der Hongkong Internet Registration Corporation, die letztlich als ccLTD Registry für .hk agierte.

Sie haben auch die Hongkonger Organisation der Service Provider mit gegründet. Wie viele Mitglieder hatte die?

HK ISPA. Das war allerdings noch zu meiner Zeit bei HKNet. Die Zahl der Mitglieder wuchs stetig bis auf etwa 100, von denen ungefähr 20 substanzielle Internet-Zugangsdienste anboten. Viele andere hatten eine Lizenz, die umgerechnet nur 100 Dollar kostete. Aber sie hosteten ein paar Kunden oder boten andere Dienste an. Die Lizenz hatten sie praktisch nur zur Sicherheit. Im Zusammenhang mit meinen Aktivitäten für die Zivilgesellschaft wurde ich später allerdings auch noch Vorsitzender von APRALO (Asia Pacific Regional At-Large Organisation), die Nutzer aus Asien im ICANN Prozess vertrat. Ich war immer stärker involviert in die Entwicklung von Regeln fürs Internet auf lokaler, regionaler, aber auch internationaler Ebene und zu der Zeit war ich viel unterwegs in der Welt. Das endete, als ich Mitglied im Parlament in Hongkong wurde. Da ging das nicht mehr.

Sie haben über die politischen Beteiligungsprozesse in Hongkong gesprochen. Haben die sich nach der Übergabe der ehemaligen Kronkolonie an die neuen Herrscher, die Volksrepublik China, geändert?

Wie schon für die Telekom-Liberalisierung geschildert, es ist schwer einen exakten Zeitpunkt zu benennen, an dem die politische Situation sich gewandelt hat. Ich würde sagen, das erste Jahrzehnt unter den vereinbarten Ein-Land-Zwei-Systeme-Regularien war fast Business as usual. Bis vor vier oder fünf Jahren hatte Hongkong noch immer eines der freiesten Internet-Ökosysteme in der Welt. Ich meine, wir waren am freiesten in Asien. Sowohl mit Blick auf die Telekom-Liberalisierung als auch mit Blick auf die Kontrolle von Inhalten. Die von den Briten gestartete Deregulierung lief weiter und noch immer konnte man als ausländisches Unternehmen eine Lizenz erhalten. Darum gab es auch so viele Anbieter aus Europa, aus anderen Teilen Asiens, aus China und den USA. Jeder hatte dort einen Standort. Viele hatten eigene Data-Center und Glasfaserleitungen, Unterseekabel, die nach Hongkong kamen.

Es war ein Hub …

Es war nach wie vor ein Hub, weil das Regulierungsregime sehr leichtgewichtig und einfach zu navigieren war. Wir haben die Regierung gebeten, mehr Land für die Bebauung freizugeben und sie sind uns dabei entgegengekommen. Es lief also ganz gut nach der Übergabe. In Bezug auf Beschränkungen für Inhalte im Netz, das gab es einfach nicht. Wir konnten beobachten, wie in europäischen Ländern wie dem Vereinigten Königreich nach und nach Blacklists entstanden. Bei uns gab es das aus was auch immer für Gründen nicht. Manche halten Verbote für kriminelle Inhalte im Netz, für Webseiten, die Terror propagieren oder Pornografie oder Kindesmissbrauch darstellen, für richtig. Aber Hongkongs Regierung hielt die Füße still.

Gab es denn nicht einen Abbau von Freiheiten direkt nach dem Handover? Was ist mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz von 2020? Es stellt sogenannte separatistische und terroristische Inhalte und Aktivitäten unter Strafe.

Zwischen der Übergabe 1997 und etwa 2010 war ich an vielen von der Regierung initiierten Konsultationen beteiligt und ich saß in einer Reihe von Beratungsausschüssen. Ich wurde als IT-Experte geladen, um Empfehlungen im Bereich Technologie, Internet und New Economy auszusprechen. Ich habe selbst eine Menge gelernt in dieser Ausschuss-Arbeit, in Bereichen wie Verbraucherfragen oder öffentliches Gesundheitssystem. Sechs Jahre lang habe ich die Krankenhausaufsicht unterstützt, ihre Klinikmanagement-Systeme neu aufzusetzen. Wir haben beispielsweise intensiv über die Verarbeitung sensibler Patientendaten diskutiert. Obwohl wir also keine Fortschritte bei Hongkongs Wahlsystem machen konnten, gab es in vielen Internet-Bereichen viele Freiheiten und es war uns möglich, Systeme zu verbessern. Ich bin nicht der Ansicht, dass die Regierung immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat, aber zumindest hörten sie noch ein wenig auf uns. Es gab für einige Zeit noch Kanäle, um die Politik zu beeinflussen. Heute sind die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen verstummt, auch wenn die Regierung sagt, sie würde die Öffentlichkeit konsultieren. Es ist nicht mehr das Gleiche.

Sie kamen erst nach 2010 das erste Mal ins Abgeordnetenhaus. Hat die Exekutive da noch aufs Parlament gehört?

Meine erste Amtszeit begann 2012 und die Situation hat sich danach immer weiter verändert. Es wurden immer mehr Einschränkungen von Rechten vorgeschlagen und als Opposition stellten wir uns gegen mehrere dieser Gesetzesvorschläge der Regierung. Sehr kontrovers war der Regierungsvorschlag zur Änderung des Urheberrechts, das gerade auf dem Tisch des LegCo landete, als ich als frisch gewähltes Mitglied meine Arbeit aufnahm. Die Regierung erklärte uns, dass wir gegenüber anderen Jurisdiktionen in Europa und den USA Nachholbedarf hätten. Man sagte uns, schaut, Deutschland, Großbritannien, Kanada, die USA, alle machen es so. Wie können wir es da anders machen?

Natürlich sind kulturelle und rechtspolitische Traditionen im Westen von denen in Hongkong verschieden. Es gab eine große Kontroverse. Vor allem jüngere Nutzer begannen sich so ab 2010 zu organisieren. Sie forderten von den Abgeordneten, dass sie den Gesetzesvorschlag ablehnen sollten, und sie waren erfolgreich. 2015, am Ende meiner ersten Amtsperiode, haben wir den Vorschlag praktisch durch Endlos-Reden (Filibuster) zu Tode debattiert. Die Regierung zog den Vorschlag zurück. Der Grund für den großen Widerstand in der Bevölkerung war, dass viele fürchteten, die Regierung werde die neuen Kompetenzen nutzen, um Inhalte unter dem Vorwand des Urheberrechts zu kontrollieren. Die Internetnutzer haben der Regierung sehr misstraut.

Ein Argument, das auch in Europa in der Debatte angeführt wird …

Die Angst war einfach, man würde als Krimineller verfolgt werden, weil man eine Karikatur von jemandem anfertigt und argumentiert wird, das sei ein Derivativ eines bestehenden Werks. Man hatte Sorge, dass das gegen politische Proteste eingesetzt würde. Wir sehen genau diese Art von Zensur heute. Es ist einfach, bei YouTube eine Urheberrechtsverletzung zu melden und schon ist der Inhalt verschwunden. Die Menschen in Hongkong hatten genau diese Sorge und sagten nein. Das Lustige ist, ausländische Regierungen, vor allem die USA, befürworteten das Gesetz. Ich nehme an, sie hatten einfach auf die großen Inhalteanbieter wie Disney gehört.

Urheberrechtsverletzungen sollten als Straftat verfolgt werden ...

Ja und Geld- und Haftstrafen angehoben werden. Wir sahen Mängel, weil das Fair-Use-Prinzip nicht mehr geschützt war. Der Streit um das Urheberrecht war eine der wenigen Gelegenheiten, in denen wir unsere Macht als Minderheit im Parlament ausspielen konnten. Ich denke, es wird Menschen geben, die sowohl das Ergebnis als auch unsere Taktik für falsch halten. Aber so etwas gehört zur repräsentativen Demokratie. Ich nehme an, die Regierung in Peking hat den Vorgang legislativen Widerstands als inakzeptabel empfunden. Wir konnten die Regierung daran hindern, ihre Macht auszuüben. Vielleicht hat es rückblickend betrachtet auch dazu beigetragen, dass die Regierung darauf bedacht war, eigene Kontrolle wiederherzustellen. Aber viele von uns haben an diesem Beispiel auch gelernt, wie wir unsere demokratischen Rechte in einem System ausüben können, dessen Wahlsystem nicht wirklich demokratisch war.

Können Sie das Wahlsystem erklären? Sie saßen praktisch für die IT Wirtschaft im LegCo?

Ich war ein Repräsentant der sogenannten funktionalen Constituencies. Es gab mehrere Industrie-Sektoren, die eigene Mitglieder ins Parlament entsenden konnten, zusätzlich zu den in den lokalen Distrikten allgemein gewählten Abgeordneten. Die Transportbranche, der Tourismus und viele andere. Einige dieser Constituencies waren klein, zum Beispiel gibt es nur 200 Bankenlizenzen in Hongkong. In manchen wird dann direkt gewählt, in anderen sind nur Verbände wahlberechtigt. Während also der Bereich Landwirtschaft 100 Stimmen hatte, die die verschiedenen Landwirtschaftsverbände vertreten, hatten wir im IT-Bereich 20.000 Wähler. Bei uns konnte jeder wählen, der Mitglied in einer Berufsorganisation war. Es war also immer noch beschränkt, sonst hätten wir vermutlich 100.000 Wähler gehabt. Ich war damals der Ansicht, das eigentliche Ziel sollte sein, dass wir das System in Richtung allgemeines Wahlsystem weiter entwickeln sollten, in dem jeder Bürger einfach eine Stimme hat. Das System mit den Constituencies war nicht fair, denn manche, wie wir in der IT, bekamen eine zweite Stimme. Einfache Arbeiter, Installateure etwa oder Hausfrauen dagegen hatten keine Zweitstimme.

Sie wurden zweimal gewählt von der IT-Constituency. Wie haben sich die beiden Amtszeiten unterschieden? Wie hat sich das politische Klima verändert?

Während meiner ersten Amtszeit gab es die Umbrella-Bewegung (benannt nach den bei den Demonstrationen gegen die Polizei aufgespannten Schirmen, es ging um die Einführung eines Screening von Wahlkandidaten). Die Proteste starteten 2014. Während meiner zweiten Legislaturperiode brachen die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz aus. Das war 2019 und 2020 und natürlich am 20. Juli 2020 setzte die Regierung, in Wirklichkeit die Regierung in Peking, das Nationale Sicherheitsgesetz in Kraft. Die politische Szene hat sich innerhalb kürzester Zeit völlig verändert. Die politischen Gräben wurden sehr tief. In diesen zweiten vier Jahren waren die Zeichen erkennbar, dass Peking rigoros durchgriff. Sie waren noch nie wirklich offen, aber in dieser zweiten Amtszeit, haben sie kurzen Prozess gemacht und Dinge sehr schnell durchgesetzt, ohne Rücksicht darauf, was die Bürger denken, ohne Rücksicht auf die Meinungen in Hongkong oder auch international. Das war eine ziemlich klare Sache.

Einige ihrer Kollegen wurden vor Gericht gestellt und wegen Verstößen gegen das Sicherheitsgesetz angeklagt …

Lassen Sie mich die Situation im Juli 2020 erklären. Meine Amtszeit war eigentlich 2020 beendet und ich hatte entschieden, dass ich nicht wieder antrete. Ich wollte die Jüngeren ans Ruder lassen, den Stab weitergeben sozusagen. Aber die Regierung entschied im Juli, dass sie wegen Covid die Wahl nicht abhalten würden. Wir hatten eher den Eindruck, man nutze Covid als Ausrede. Zugleich fragte die Regierung die Mitglieder des Parlaments, Regierungsanhänger und Opposition, ob sie einer Verlängerung ihrer Amtszeit um ein Jahr zustimmen. Auch die Kollegen, die wie ich aufhören wollten, entschieden also gemeinsam, dass wir noch ein Jahr bleiben würden. Aber im November entschied die Regierung, dass sie vier Kandidaten, die sich schon für die nächste Wahlperiode beworben hatten, nicht zur Wahl zulassen würden. Sie wurden nicht verhaftet oder so, sondern ihnen wurde eine Kandidatur verweigert. Die Regierung erklärte zugleich, da sie von der nächsten Wahl ausgeschlossen seien, könnten sie auch das noch laufende Jahr nicht im Amt bleiben.

Mit welcher Begründung wurden sie nicht zur Wahl zugelassen?

Es wurden eine ganze Reihe von Gründen angegeben, lauter politische Gründe. Die Entscheidung zeigte, dass die Regierung neue Befugnisse nutzte, um gegen die Opposition vorzugehen. In den ersten 10 Jahren des Ein-Land-zwei-Systeme-Mandates wurden Leute ausgeschlossen, wenn sie falsche Angaben zu ihrem Alter oder ihrer Staatsbürgerschaft gemacht hatten, solche Dinge. Aber jetzt nutzten sie klar ein politisches Screening, um zu entscheiden, wen sie draußen haben wollten.

und wurde das Nationale Sicherheitsgesetz gegen sie eingesetzt …

Nein. Es wurde erklärt, sie wären nicht loyal der Regierung gegenüber und daher müssten sie disqualifiziert werden. Die Regierung sagte, wir glauben nicht, dass ihr ehrlich seid, wenn ihr den Amtseid ablegt. Sie sagten den Leuten praktisch, was sie dachten. Mit dieser Art von Argumenten wurden unsere vier Kollegen also ausgeschlossen und der Rest von uns entschied dann, dass wir gemeinsam zurücktreten. Wir blieben also kein weiteres Jahr und die meisten von uns sind auch wirklich sehr schnell gegangen.

Sie sind gegangen und haben Hongkong verlassen, um wieder eine neue Rolle anzunehmen. Aus ihren Forschungsarbeiten würden Sie sagen, dass das Internet in Hongkong bald mehr aussieht wie das Internet auf dem chinesischen Festland?

Die Regierung versucht aktuell eine Menge neuer Gesetze in verschiedenen Bereichen durchzudrücken im Bestreben, ihre Kontrolle auszuweiten. Wir sehen das nicht nur in Hongkong oder auch in China. Man kann das in anderen Ländern Asiens auch beobachten, Indien, Vietnam, Indonesien und auch Singapur. Ein anderes Beispiel sind die Philippinen, wo die Regierung gerade ein Gesetz verabschiedet hat, dass jeder seine SIM-Karte anmelden muss. Wir haben das jetzt auch in Hongkong.

Das ist in Deutschland schon seit vielen Jahren so ...

Asiens Regierungen können also möglicherweise sagen, dass sie alle dem deutschen Vorbild folgen. Auf jeden Fall verhindern diese Gesetze, dass man anonym telefonieren kann. Für Bürgerrechtsvertreter ist das ein Problem. Natürlich sind die für manche Chaoten. Aber es kommt überhaupt nicht mehr darauf an, ob sie an einem Protest teilnehmen oder nicht. Vielleicht wollen sie einfach geheim, unbeobachtet und verschlüsselt kommunizieren. Diese Art von Gesetzen wird gerade an vielen Orten verabschiedet. Ähnliche Entwicklungen gibt es unter dem Stichwort "nationale Sicherheit und Verbrechensbekämpfung" im Westen. Die USA oder das Vereinigte Königreich haben mit dem Online Safety Bill oder dem US EARN IT Act alle Entwürfe am Start, die Regierung und Polizei mehr Macht bei der Entfernung von Inhalten und der Ausspähung privater Kommunikation geben. Das passiert nicht nur in Asien, Afrika oder Südamerika. Westliche Länder sind auf dem gleichen Pfad. Das erste Gesetz in Asien, das die Löschung von nach Auffassung der Regierung als Falschinformation einzuschätzenden Inhalten erlaubt, wurde in Singapur verabschiedet – kurz nach dem deutschen NetzDG Gesetz.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz als Exportmodell …

Ja und alle machen es nach. Indien etwa und auch Hongkong. Zwar ist man in Hongkong wieder etwas später dran, wie üblich, aber die Gesetze zu Desinformation und Cybersicherheit gehen demnächst in die Beratungen.

Wird das Ganze auch zu einem stärker fragmentierten Netz führen?

Ich sehe Inseln entstehen und, auch hier wieder, es ist nicht nur Hongkong. Nehmen wir das britische Online Safety Bill. Wenn einige Firmen wie WhatsApp oder Signal ihre Ankündigung wahr machen, dass sie den britischen Markt verlassen, dann wird UK eine Art von Insel. Der Trend, dass Regierungen bestimmte Arten von Inhalten stärker kontrollieren wollen, ist unübersehbar. Der Preis dafür ist eine gewisse Fragmentierung und es ist schlecht, denn wir verlieren das eine Internet. Das Netz wird auch weniger sicher und weniger resilient. Gesetzgeber oder autokratische Regierungen wollen alle mehr Macht. Genährt durch die Auffassung, dass die Big Tech-Unternehmen als die Bösen identifiziert sind – und ich sage gar nicht, dass sie die Guten sind – lässt sich Unterstützung für gesetzgeberische Maßnahmen gewinnen, die bestimmte Inhalte oder Geschäftspraktiken verbieten sollen. Meine Sorge ist, dass in den Ländern, in denen es um die Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz nicht so gut bestellt ist, damit der Weg freigeräumt wird für mehr Kontrolle eines ehemals freien Internet.

Wird Hongkongs Internet Teil von Chinas insularem Internet, eingeschlossen von der Great Firewall?

Die Leute fragen mich häufig, ob Hongkong hinter Chinas Great Firewall verschwinden wird. Ich sage immer nein, weil die Great Firewall nämlich sogar für China schon ein etwas angestaubtes Konzept ist.Es geht nicht mehr ums Filtern. China versucht auf jede mögliche Weise Kontrolle auszuüben und es ist nicht allein. Da ist vermutlich Indien, da ist Russland und so weiter. Insofern sehen wir Fragmentierung, aber eben nicht nur eine Art von Fragmentierung, sondern Fragmentierung in unterschiedlicher Hinsicht. Die Gesetze sind verschieden. Unterschiedliche Gesetze regeln die lokale Datensouveränität. Im Bereich Standards fangen Regierungen an, eigenen Wege zu gehen und möchten gerne ihre eigenen Standards für ihre eigenen Länder vorschlagen. China möchte das schon seit Langem und sie möchten ihre Standards nun auch gerne ausweiten auf die Welt jenseits ihrer Grenzen. Dafür arbeiten sie mit Huawei und anderen chinesischen Firmen zusammen.

Die größte Gefahr sehe ich persönlich dabei nach wie vor in lokaler Gesetzgebung, denn durch die verlieren wir das Internet als gemeinsamen Raum, als der es so erfolgreich gewesen ist. Werden wir noch frei sein, um auf Information zuzugreifen? Werden die Bürger sicher sein, wenn sie das Recht auf Vertraulichkeit zugunsten des von ihrer Regierung erklärten Kampfes gegen Verbrecher aufgeben müssen? Wie werden Journalisten, Aktivisten und Sozialarbeiter ihre Arbeit tun können, wenn sie nicht mehr vertraulich und anonym kommunizieren können? Das sind die Sorgen, nicht nur in Hongkong und Asien, sondern global. Hongkong wird nie eine totale Insel werden, denn man wird dort die internationalen Verbindungen, die man hat, nicht aufgeben wollen. Aber es wird kein so freier Ort mehr sein wie früher.

Sie sprachen von Versuchen, den Anwendbarkeit lokaler Gesetze auch auf Parteien jenseits der eigenen Grenzen auszuweiten. Ist Hongkongs Cybersicherheitsgesetz so ein Fall? Wenn ich E-Mail-Dienste für Hongkonger Protestgruppen anbiete, mache ich mich dann strafbar?

Auch das ist wieder ein globaler Trend. China und auch die USA strecken seit vielen Jahren ihren "langen Arm des Gesetzes" immer weiter aus, indem sie ihre Gesetze in anderen Jurisdiktionen zur Anwendung bringen. Die Europäische Union hat mit der Datenschutzgrundverordnung (GDPR) ein Beispiel geliefert. Hongkongs Regierung sagt heute im Bereich der Kontrolle von Inhalten genauso wie andere Regierungen auch, wenn du etwas postest, was hier illegal ist, wird es verfolgt, egal wo du bist. Ganz praktisch wird es schwierig sein, eine Auslieferung etwa aus Deutschland zu erwirken. Aber das ganze erfüllt sehr erfolgreich den Zweck, die Leute zum Schweigen zu bringen. Viele werden es sich zweimal, dreimal oder viermal überlegen, ob sie etwas äußern, und am Ende werden sie gar nichts mehr sagen.

Gibt es Inseln, die noch freier sind? Was ist mit Taiwan, wo Sie gerade waren?

Taiwan steht in Rankings zur Internetfreiheit in Asien an der Spitze. Zugleich hat es eigene Probleme. Der Umstand, dass das Land die persönlichen Daten von 23 Millionen Bürgerinnen und Bürgern verliert und dann einfach sagt, Schwamm drüber, ist nicht gerade ein leuchtendes Beispiel. Manche Gesetze sind reformbedürftig, etwa die Ausnahme der öffentlichen Hand aus dem Datenschutzgesetz. In Bezug auf den Zugang zu ungefilterter Information und die freien Datenflüsse, da sind sie die Freiesten. Das perfekte System gibt es aber wohl nicht. Es wird eine große Aufgabe der globalen Tech-Diplomatie, die in verschiedene Richtung laufenden gesetzlichen Entwicklungen weltweit zusammenzuführen. Wir brauchen wohl eine internationale Organisation, die das voranbringt. Die G7 kümmern sich neuerdings um digitale Resilienz, allerdings steht der geopolitische Aspekt da im Vordergrund.

Ein faires System für den Austausch von Daten könnte von dort vielleicht initiiert werden. Dabei dürfen aber nicht die ökonomischen Interessen im Vordergrund stehen, also es darf nicht bloß darum gehen, wer kann wie mehr Geld verdienen. Verhandlungen bei den Vereinten Nationen, wie die über einen Global Digital Compact sollten weiter geführt werden. Ich weiß, viele kritisieren diese Prozesse, auch das Internet Governance Forum, als endloses Gerede. Die Frage ist, was wäre denn, wenn es morgen das IGF nicht mehr gäbe. Ich denke, es würde den Leuten klar, dass das noch schlechter wäre. Wie wir die geopolitischen Spannungen, die Ursache der Spaltung heute sind, bewältigen, dafür hat wohl aktuell keiner eine Lösung. Mehr Teilhabe und Partizipation, egal jetzt, ob wir das Multistakeholder oder sonst wie nennen, ist ein Muss. Zumindest müssen wir mehr reden, damit mehr Menschen erfahren, was die Probleme sind.

Charles, danke für das Gespräch.

Danke.

(bme)