Missing Link: Auch Internetprotokolle haben ihren Lifecycle

Seite 4: Dominante Player

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Ist die Dominanz der großen Firmen ein Trend?

Michael Scharf: Ich würde hier nicht nur auf die großen Firmen im Web abstellen. Wir sollten nicht nur auf Google und andere große Firmen blicken. Es gibt immer einzelne Bereiche, wo große Player ihre Marktmacht durchdrücken können. Aber es gibt auch Bereiche, Kommunikationsnetze etwa, wo ganz andere Firmen eine Markt-beherrschende Stellung haben. Und auch da wurden in der Vergangenheit immer wieder proprietäre Protokolle eingesetzt. Meist funktioniert das, aber oft musste in der Protokollentwicklung mehrfach nachregelt werden. Und dadurch, dass der Zoo an Protokollen größer wird, haben wir die Chance, dass auch die Use-Cases dieser Player abgedeckt werden. Es wäre gut, wenn neue Use-Cases auch abgedeckt werden von dem, was wir haben.

Michael Tüxen: Bei den Protokollmechanismen stimme ich dir zu. Wenn die Protokolle von zwei unterschiedlichen Anbietern kommen, müssen die interoperabel sein. Da muss man standardisieren. Bei Staukontrolle müssen sie aber nicht unbedingt standardisieren – wenn man da BBR und Google anschaut. Da ist keine Standardisierung da. Sondern da entwickelt eine Gruppe für ihre Use-Cases. Man ist dann immerhin so nett und gibt gewisse Stände in die IETF. Aber das müssten sie nicht. Die könnten auch agieren, ohne das zu tun. Welchen Benefit jemand hat, der seine Staukontrolle zur IETF bringt, ist nicht immer ganz klar.

Die EU-Kommission möchte gerne, dass Europa stärker in der Standardisierung aktiv ist. Da ist die Rede von europäischen Werten in der Standardisierung. Allerdings stehen in den entsprechenden Dokumenten der EU in der Regel die ITU und ETSI. Die IETF aber nicht. Was kann die EU unterstützend leisten, vielleicht auch im Sinne von Mittelständlern?

Michael Scharf: Die IETF hat keine gute Lobby in der Politik. Da unterscheidet sie sich von anderen Standardisierungsorganisation. Zum Teil liegt das einfach an der Struktur der IETF. Hier tragen individuelle Entwickler bei. Andere SDO bestehen aus Firmenkonsortien, die auch mit einer bestimmten Lobbyarbeit auf die Politik zugehen.

Ich bin immer ein wenig vorsichtig, wenn die Politik in Europa sagt, wir müssen jetzt mehr Standardisierung machen. Das hat sie in den vergangenen 10 Jahren immer wieder versucht, auch mit großen Forschungsprogrammen. Meiner Beobachtung nach funktioniert Standardisierung nicht isoliert. Es hilft Europa wenig, wenn man sagt, wir schicken jetzt einfach mal 100 Standardisierer los. Die Industrie, die Use-Cases und die Anwender müssen da sein und die Wertschöpfung. Standards sind ein Teil dieses Ganzen. Was wir natürlich gesehen haben, Europa hat in den vergangenen 10 bis 20 Jahren die Telekom- und Internet-Branche vernachlässigt. Da kommt der Niedergang der europäischen Telekommunikationsindustrie her. Das dreht sich jetzt vielleicht ein bisschen. Man muss sich mehr darauf besinnen, wer Geräte herstellt. Da könnte sich wieder etwas verändern.

Michael Tüxen: Gerade beim IETF, wenn man das als Fokus hat, ist für die Standardisierung sehr wichtig, dass man auch eine Implementierung hat. Zumindest prototypischer Art. Noch besser wäre aber ein Deployment in was auch immer für einen Bereich. Im Transportbereich ist die Zusammenarbeit mit Mittelständlern eher schwierig. Eine eigene Transportmodifikation ist für sie nicht interessant. Aber gerade diese Implementierungsnähe – die das IETF hat im Gegensatz zu anderen Standardisierungsgremien –, macht das etwas schwieriger im Forschungsbereich, weil da praktische Implementierungen nicht so gefragt sind. Da geht es eher um Forschungsergebnisse.

Interessiert sich die aktuellen Studierendengenerationen überhaupt noch für IETF und Protokollstandardisierung? Oder gibt es wegen des geringen Industrie-Interesses auch keine Nachfrage von Studierenden. Oder sind Sie, Entschuldigung, fast schon historische Relikte einer Zeit, als es Siemens und Alcatel-SEL gab?

Michael Tüxen: Mein Industrie-Hintergrund ist ja Telefonsignalisierung über IP und das mache ich weder in der Lehre noch bei Abschlussarbeiten. Ich orientiere mich eher daran, was beim IETF aktuell gemacht wird. Dann habe ich vielleicht nicht unbedingt einen Mittelständler als Ansprechpartner, aber für Abschlussarbeiten muss das auch nicht sein. Es gibt auch durchaus Studierende, die sich dafür interessieren. Die sind nicht durch einen Industriepartner motiviert, sondern durch den Inhalt. Und da ist die IETF-Nähe gut, weil man mal einen Draft ausprobieren kann. Für ITU und ETSI kann ich mir das weniger vorstellen. Bei diesen Gremien war ich zu Siemenszeiten noch aktiv. Das ist zu langwierig.

Michael Scharf: Man kann durchaus Studierende gewinnen für solche Themen. Im letzten Jahr haben Studierende der Hochschule Esslingen eine prototypische Implementierung einer neuen Spezifikation der TCPM Arbeitsgruppe entwickelt. Das sind auch gute, weil aktuelle Themen. In meinem Fall sind das auch keine rein akademischen Arbeiten. In Stuttgart haben wir vielleicht keine Telekommunikationsindustrie, aber sehr viel Maschinenbau und Automobilindustrie. Außerdem werden die ganzen Techniken für viele Branchen, die einen ganz anderen Hintergrund haben, immer wichtiger. Da kommen neue Anwendungsfälle her, für unseren jüngsten Prototyp war es die Automobilindustrie.

Die Internettechniken und Protokolle werden immer relevanter in Gebieten, für die sie nicht entworfen wurden. Das sind Industrieanlagen und die Automobilindustrie. Oft ist die IETF in den entsprechenden Kreisen nicht bekannt. Aber mit der Digitalisierung werden Protokolle, aber auch die IETF wieder relevant werden. Es ist noch etwas früh, weil sowohl Techniken als auch Unternehmen sind teils noch nicht ganz so weit. Aber das kommt mehr und mehr und in diesen Bereichen hat Deutschland teilweise auch Marktführer.

Wenn, dann sollte man die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Industrie fördern?

Michael Scharf: Förderung ist immer sinnvoll. Ich bleibe aber dabei, eine Förderung allein der Hochschulen ist wenig sinnvoll. Da müssten Kollaborationen mit der Industrie gefördert werden. Ich würde dabei nicht nur auf klassische Kommunikationstechnik und Router-Hersteller schauen, sondern auf die Industrie, die wir haben in Deutschland und für die das Internet noch viel relevanter werden wird. Anders als in der Telekom-Industrie, wo man die Marktführerschaft vor 15 Jahren aufgegeben hat, gibt es in anderen Branchen in Deutschland durchaus Marktführer.

Was macht Sinn zu fördern, was wäre Gießkanne?

Michael Tüxen: Ich halte es für sinnvoll zu schauen, wo sind Use-Cases und wo sind Industriepartner, die das deployen könnten. Es wäre auch gut, wenn das dann nicht nur ein proprietäres Produkt wäre, sondern wenn ein generelles Problem gelöst werden könnte.

Herr Scharf, Herr Tüxen, vielen Dank für das Gespräch.

(bme)