Missing Link: Auch Internetprotokolle haben ihren Lifecycle

Deutsche Forscher dominieren in der Internet Engineering Task Force (IETF). heise online hat mit zwei von Ihnen über den "Zoo von Protokollen" gesprochen.

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(Bild: asharkyu/Shutterstock.com)

Lesezeit: 29 Min.
Von
  • Monika Ermert
Inhaltsverzeichnis

Die EU-Kommission präsentierte 2022 eine neue Strategie zu den Desideraten europäischer Standardisierungspolitik und im Bundesinnenministerium wird darüber nachgedacht, wie man mehr deutsche Firmen in Standardisierungsorganisationen "tragen" könnte. Dabei gibt es in der in einer Woche in Yokohama tagenden Internet Engineering Task Force (IETF), einen Bereich, in dem deutsche Forscher fast schon dominieren. Ein Gespräch mit einem der aktuellen Vorsitzenden der TCPM-Arbeitsgruppe, Michael Tüxen (Hochschule Münster) und seinem Vorgänger, Michael Scharf (Hochschule Esslingen), über alte und neue Transportprotokolle fürs Internet.

heise online: Herr Tüxen, Herr Scharf, Sie haben bis im vergangenen Jahr die TCPM-Arbeitsgruppe gemeinsam geleitet. Es gibt aber weitere deutsche Entwickler, die im Bereich Transportprotokolle aktiv sind. Mirja Kühlewind war längere Zeit Area Director für Transport. Der aktuelle IETF-Vorsitzende, Lars Eggert, hat lange die Arbeitsgruppe geleitet, die das neue Transportprotokoll Quic standardisiert hat. Sind Transportprotokolle eine deutsche Domäne?

Michael Scharf: Tatsächlich haben viele Personen in der Transport Area einen deutschen Hintergrund. Das kommt wohl daher, dass die Transport Area der Bereich in der IETF die ist, die am offensten ist für akademische Beiträge. Daher finden viele, die aus den Universitäten oder dem Wissenschaftsbereich allgemein kommen, darüber den Einstieg in die IETF. Ich selbst bin als Doktorand in die IETF gekommen und das ist auch bei einigen anderen so gewesen. Deutschland hat außerdem eine starke Forschungslandschaft, traditionell auch in der Industrieforschung. Also es gibt viel große Player, die in Deutschland Forschungseinrichtungen unterhalten, und auch darüber finden die Leute zur IETF. Ich selbst war Forscher bei den Firmen Alcatel-Lucent und Nokia.

Und Sie, Herr Tüxen?

Michael Tüxen: Tatsächlich, das stimmt. Auch Michael Welzl kommt genau aus diesem Bereich. Ich komme selbst von Siemens und bin über SCTP (Stream Control Transmission Protocol) in die Transport Area gekommen. Bei Siemens war das aber gar nicht Forschung, sondern Produkt nahes Systems-Engineering.

Aber in dem Bereich Applications, also Anwendungen oder Routing, diese sind nicht so deutsch bespielt?

Michael Scharf: Für den IETF-Bereich Application kann ich wenig sprechen. Aber ich habe in meiner Industriezeit auch Routing gemacht. Da muss man einfach sagen, die großen Entwicklungsabteilungen und Forschungseinrichtungen hier sind klar Nordamerika. Das spiegelt sich klar in der IETF wider. Fürs IP-Routing ist es ein wenig anders. Da gibt es Ecken, wo deutsche oder europäische Entwickler unterwegs sind. Das ist meistens nicht das Core-Routing, sondern die Gebiete, wo es in Europa auch Industrie gibt. Im Bereich optische Übertragungsnetze, wo es in Europa klassische Hersteller gibt, die bis heute aktiv sind. In den entsprechenden Arbeitsgruppen sieht man daher wieder viele Europäer, die wesentlichen Spieler sogar sind Europäer – und da sind auch immer wieder Deutsche dabei. Im Routing ist es klar nach Themen gegliedert. Da, wo es eine europäische Industrie gibt, gibt es auch europäische Vertreter in der IETF. Da, wo in Europa keine Entwicklung stattfindet, trifft man auch niemanden in der Standardisierung.

Michael Tüxen: Es gibt schon noch Firmenvertreter. Was ich aber bemerkt habe, ist, dass im Transportbereich ein Trend gerade bei deutschen Teilnehmern ist, von der Industrie in die Hochschulen zu wechseln. Michael Scharf und ich kommen von der Industrie und sind jetzt an Hochschulen, und auch Martin Stiemerling und Rolf Winter haben das gemacht.

Unterstützten die Hochschulen die IETF-Tätigkeit denn?

Michael Tüxen: Meine Hochschule unterstützt das. Aber das ist unterschiedlich.

Michael Scharf: Als Hochschulprofessor hat man viele Freiheiten und die nehme ich mir, um in der IETF weiter aktiv zu sein. Eine aktive Unterstützung, etwa durch eine Finanzierung, gibt es gerade nicht. Ich muss allerdings dazu sagen, ich habe die Transport Area-Tätigkeiten auch in der Industrie nie als Firmenvertreter gemacht. Das war immer mein privates Steckenpferd.

Mit der Standardisierung von Quic hat ein großer Player, nämlich Google, ein wichtiges neues Transportprotokoll in die IETF gebracht. Ist das das Ende des akademischen Charakters der Transport Area? Und spiegelt sich das auch darin, dass nun Ian Swett, einer der Quic-Entwickler von Google, TCPM-Chair ist?

Michael Tüxen: Also die Wahl treffen nicht wir. Das macht der Area-Director. Man müsste also in diesem Fall den Transport Area-Director (AD) fragen, wie er ausgewählt hat. Das kann eine fachliche Nähe sein, oder eben nicht. Manchmal geht es auch um ein generisches Thema. Es gibt auch die Taktik, dass man jemand neuen hinzunimmt, damit die Mitglieder der WG noch was lernen.

"Missing Link"

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Dass ein Quic-Entwickler aus dem Haus Google TCP mit reformieren soll, wäre also nichts Ungewöhnliches und der Verdacht, dass da mehr dahintersteckt, gehört ins Reich der Verschwörungstheorien?

Michael Scharf: Da muss ich mal einhaken. Es gab durchaus schon ähnliche Fälle in der Vergangenheit. Michael Tüxen zum Beispiel ist ein sehr bekannter SCTP-Entwickler, und er ist doch TCPM-Chair geworden. Aus meiner Sicht ist das eine taktisch kluge Entscheidung. Denn die verschiedenen Transportprotokolle, TCP, SCTP und Quic, haben viele Gemeinsamkeiten und da braucht man Experten für jedes Protokoll. Ich selbst bin zum Beispiel kein SCTP-Experte. Wir haben aber Algorithmen, die über die verschiedenen Protokolle hinweg funktionieren müssen. Und da macht es sehr viel Sinne, Leute mit Detailkenntnis der einzelnen Protokolle zu haben. Sieht man es verschwörungstheoretisch, hätte Michael Tüxen niemals TCPM-Chair werden dürfen. Tatsächlich war es klug und so sehe ich das auch jetzt. Es ist auf jeden Fall gut, Leute zu haben, die die Gemeinsamkeiten von Quic und TCP kennen.

Michael Tüxen: Es gibt noch einen anderen Aspekt. Dadurch, dass ich im SCTP-Bereich entwickle, liefere ich vor allem dort eigene Drafts. Der Interessenkonflikt, dass ein Chair gleichzeitig noch ein Dokument schreibt, kann damit vermieden werden.