Missing Link: Künstliche Intelligenz - Justitias Freund und Helfer?

Seite 2: Amtsgericht 4.0 und andere Smart-Projekte

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Ganz so einfach aber ist es nicht. Denn natürlich gibt es Begehrlichkeiten in der Justiz, den KI-Zug nicht ganz abfahren zu lassen und Staatsanwaltschaft, Ermittler und Anwälte unterliegen nicht den gleichen strengen Beschränkungen.

Aber auch für die Gerichte sollen gleich mehrere Projekte erkunden, wie KI etwa für das Amtsgericht 4.0 genutzt werden kann. Am digitalen Amtsgericht 4.0 Projekt wird seit vergangenem Jahr im saarländischen Ottweiler "gebaut".

In Rheinland-Pfalz und Bayern kümmert man sich um die semantische Analyse von Gerichtsakten, um das Anlegen der e-Akte zu erleichtern. Gearbeitet wird daher an der automatisierten – KI-gestützten – Erfassung von Metadaten aus den gescannten Akten, an der Kategorisierung der Schriftstücke in den Akten in zunächst 10, später rund 40 Einzelkategorien und an der schlichten Aufspaltung der gescannten Konvolute in Einzeldokumente, die frisch eingescannt als Gesamtopus bei den Richtern anlangen, berichteten Sören Preissler, Diplom Wirtschaftsinformatiker und Projektleiter SMART und eIP beim Oberlandesgericht Zweibrücken und Robert Wunderer, Richter und Leiter des Sachgebiets IT C.3 beim IT Servicezentrum der bayerischen Justiz.

Die Automatisierung tut Not. Fünf e-Akte-Gerichte gibt es laut einer Präsentation beim EDV-Gerichtstag 2020 bislang in Bayern, 16 in Rheinland-Pfalz. Das bedeutet das Scannen von monatlich 130.000 Seiten.

Die Trefferquote bei der Trennung, der Kategorisierung und der Identifikation etwa des Aktenzeichens seien schon gut. Mit einer Ausnahme liegen sie bei 92 oder 93 Prozent. Nur beim Datum müsse man das System noch mehr trainieren, das erkenne die Software erst in 86 Prozent der Fälle. 100 Prozent Treffergenauigkeit zu erreichen, könne übrigens nicht das Ziel sein, sagte Preissler. Lieber solle man das System "agil" einführen. Gebraucht wird es dringend, wenn bis 2026 die Gerichte bundesweit komplett auf e-Akten umstellen sollen.

Als weitere KI Projekte der deutschen Justiz nennt der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags noch die datenschutzkonforme automatisierte Anonymisierung gerichtlicher Entscheidungen, die man im Vorgriff auf eine mögliche Schaffung einer Datenbank von Gerichtsentscheidungen für "Predictive Analytics" – vorhersagende Analysen für die Entscheidung künftiger Rechtsfälle –, vor allem im Zivilrecht, vornehme. Das Fehlen von großen Datensätzen als Trainingsdaten für eigene smarte Datenbanksystem gilt als ein großes Problem für die KI-Pläne der Justiz. Zur Verfügung gestellt haben einige Länder immerhin schon mal die Probeklausuren ihrer Jurastudenten.

Wie rasch selbst bei solchen Projekten Kritik aus den Reihen der Richterschaft kommt, zeigte beim EDV Gerichtstag die Vorstellung eines in Baden-Württemberg entwickelten automatisiertes On-Premise-Übersetzungssystem. Das Ländle leitet den durch die Bund-Länder-Kommission für Informationstechnik in der Justiz eingesetzten Themenkreis "Kognitive Systeme in der Justiz".

Zwangsmaßnahmen auf Basis automatisierter Übersetzungen anzuordnen, beziehungsweise die automatischen Übersetzungen ohne Hinzuziehung eines vereidigten Übersetzers in den Strafprozess einzubringen, steht nach Ansicht der Experten noch unter dem Vorbehalt, dass automatische Übersetzungen immer gut klingen, auch wenn sie falsch sind, wie Björn Beck konzedierte, Staatsanwalt und Referent im Ministerium der Justiz und für Europa, Baden-Württemberg.

Mehr Automatisierung für die Justiz kann sich Benedikt Quarch, einer der Gründer des Legal Tech Unternehmens RightNow Group, vorstellen. Das Start-Up kauft seit 2016 Reisenden deren Ansprüche für nicht angetretene Flüge ab, für die von Rechts wegen wenigstens Steuern und Gebühren, und manchmal mehr erstattet werden muss. Die Einschaltung von RightNow, beziehungsweise ihres Services "Geld-für-Flug.de", ist niederschwellig. Von der über ein Online Formular getriggerten Prüfung der Erfolgschancen, über das Gebot zur Übernahme der Forderung bis hin zum später von FlightRight geführten Verfahren, läuft praktisch alles automatisiert.

Gebündelt, entweder wenn ein Paket mit Forderungen voll ist oder wenn die Frist des ältesten Anspruchs im Paket abläuft, werden die Ansprüche angemeldet. Wird man sich außergerichtlich nicht einig – bei den Fluglinien passiert das in weniger als der Hälfte der Fälle – schalten Quarch und seine Kollegen Partnerkanzleien ein. Erst dann sieht erstmals ein Mensch die Klage, aber auch der wird unterstützt durch vom System ausgespuckte Schriftsatzvorlagen. Auf diese Weise schafft RightNow laut Quarch die Durchsetzung von rund 10.000 Ansprüchen pro Monat.

Weil die Verfahren stark standardisierbar sind, wäre aus seiner Sicht in diesen Fällen letztlich sogar eine automatische Entscheidung möglich.

Das in der Cyberpolitik immer etwas wagemutigere Estland macht es vor, mit "Euer Ehren KI", wie das Harvard Magazine kürzlich titelte. Zivilrechtsfälle bis 7.000 Euro können in dem osteuropäischen EU-Mitglied voll automatisiert erledigt werden. Der Vorteil aus Sicht der estnischen Macher: eine Entlastung der Gerichte, die sich stärker um die Verfahren kümmern können, in denen individuellere Fragen zu beantworten sind.

Noch einen anderen Gesichtspunkt vertritt Quarch. Für viele der Geschädigten lohnt sich der Gang zum Anwalt und ein Verfahren vor Gericht nicht. Darauf spekuliert manches Unternehmen. Die Chance, seinen Anspruch zu verkaufen und dadurch noch einen Teil des Betrages zurückzuerhalten, auf den man Anspruch hat, bietet einen niederschwelligen Zugang zur Rechtsdurchsetzung. Auch für andere Bereiche hat RightNow schon dieses Angebot an Verbraucher gemacht, Mietnebenkosten, Zugverspätungen, Unfallregulierung, aber nicht immer ging die Rechnung für das Start-Up auf.