Missing Link: Schuhe auf dem Kurfürstendamm - von erfolgreichen Revolten und technisch machbaren Utopien

Seite 2: Arbeiterkollektive und Computer

Inhaltsverzeichnis

Enzensberger (E) zeichnete das auf und publizierte das Gespräch von Rudi Dutschke (D), Bernd Rabehl (R) und Christian Semler (S). Arbeiterkollektive als Kommunen und Computer, so sah die launische Lösung aus:

D. In der Idee solcher Kollektive sehe ich einen Rückgriff auf die Pariser Kommune. Diese Assoziationsform bedeutet: Herrschaft der Produzenten über ihre Produktionsbedingungen, ihre Produkte, und ihre ganzen Lebensbedingungen. Die ganze Stadt wäre in solche dezentralisierten Kommunen aufzugliedern. Wie soll die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kommunen-Kollektiven in dieser Stadt aussehen? Wie verläuft der politische Lernprozeß? Wie soll die notwendige Verwaltung von Sachen über einzelne Kommune-Projekte organisiert werden?

R. Es wird einen obersten Städterat geben, in den die Vertreter der einzelnen Kommunen, die einzelnen Räte, jederzeit wählbar und abwählbar, ihre Vertreter hineinschicken. Sie werden den Wirtschaftsablauf kontrollieren, und zwar ohne disziplinierende Anweisungen zu geben. Sie werden dafür sorgen, daß Wirtschaftspläne und städtebauliche Projekte ausgearbeitet werden. Dabei wird die neue Technologie ihre positive Seite zeigen. Man nimmt Computer zu Hilfe, um zu berechnen, was gebaut werden muß, wie die Pläne aussehen müssen, welche Gefahren auftauchen.

E. Der Computer kann nicht entscheiden, er kann nur verschiedene Optionen ausarbeiten, die dann politisch entschieden, werden müssen. Es gibt keinen Sachzwang derart, daß uns ein Computer sagen könnte, was das Beste ist. Was das Beste ist, darüber müssen die Menschen selbst urteilen.

S. Wenn es die Computer nicht gäbe, müßten sie förmlich erfunden werden für die Räteverfassung. Nur sie ermöglichen es, Informationen zu sammeln, die die Sachentscheidungen der bisherigen Bürokratie ersetzen und zwar dergestalt, daß es überhaupt keine bürokratische Position mehr gibt, die nicht innerhalb von vierzehn Tagen umbesetzbar wäre.

Bürokratische Dummheit wird ersetzt durch Künstliche Intelligenz? Im Verlauf des Gespräches wird die Forderung erhoben, dass jede bürokratische Funktion durch jedermann in drei Wochen erlernbar sein soll. Den Rest erledigen Computer. Auch die Forderung nach Abschaffung des Justizsystems wird technologisch durchgedacht, wenn Christian Semler erläutert: "Zum Beispiel darf es nie mehr Richter geben, es darf nie mehr einen Justizapparat geben, und das ist meiner Ansicht nach durch Technologie erreichbar. Jetzt machen sich ja nur die Kapitalisten und Revisionisten Gedanken darüber, wie man Informationen speichert, um ein Rechtssystem zu formalisieren."

Rudi Dutschke 1967 im AudiMax der FU Berlin

(Bild: dpa)

Rudi Dutschke überlebte das Attentat nach einer fünfstündigen Operation, musste aber wie ein Kleinkind das Sprechen neu erlernen und wollte in Großbritannien ein neues Leben anfangen. Als er 1970 den Genesungsprozess halbwegs beenden konnte, begann er einen Briefwechsel mit Josef Bachmann. Dieser brachte sich 1970 im Gefängnis um, er war für Dutschke ein "Opfer der Klassengesellschaft" geworden.

Dutschke selbst nahm seine bereits 1967 abgebrochene Promotion wieder auf und konnte sie 1974 als "Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen" als Buch veröffentlichen. Seine Generalabrechnung mit Lenin enthält auch eine Passage, in der er sich mit Lenins bekannter Formel "Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes" auseinandersetzt, was Dutschke nun für unsinnig hielt. Er schrieb: "Die Einführung moderner Technik kann nur produktiv sein, wenn sie in der Struktur der überkommenen Produktionsweise integriert ist."

Eben mal ein Land elektrifizieren oder von Computern die Arbeit übernehmenzu lassen, ist nach der Entwicklungslogik vorkapitalistischer Gesellschaften für Dutschke nicht vorstellbar. Sein Werk über Lenin hatte jedoch, anders als von ihm erhofft, keinen Einfluss mehr, weil die Studentenbewegung sich aufgelöst hatte. Eine akademische Karriere in Berlin musste Dutschke aufgeben; am Ende stand ein Umzug der Familie Dutschke ins dänische Aarhus an.

Der deutschen Wirklichkeit näherte sich Dutschke langsam wieder, als er sich beim Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros engagierte, das sich 1978 um das Schicksal des DDR-Dissidenten und späteren Grünen Rudolf Bahro kümmerte. Von dieser Sorge für den Ökosozialisten bis zur halben Hinwendung Dutschkes zu den Grünen war es nur ein kleiner Schritt. Dutschke ging ihn, doch im Dezember 1979 starb er. Epileptische Anfälle gehörten zu den negativen Seiten seiner Krankengeschichte und einer Genesung, über die die Ärzte staunten. Für eine dauerhafte Betreuung fehlten die Mittel. Der einst umwickelte Sohn Hosea-Che versuchte sich noch an einer Wierderbelebung seines Vaters.

50 Jahre nach dem Attentat erinnerten Schuhe und eine Gedenktafel neben der Bushaltestelle an das Jubiläum. 1968 blieb ein Schuh zusammen mit dem Fahrrad und der Aktentasche mit Materialien über den Vietnamkrieg dort liegen. Weil anno 2018 das Ordnungsamt prompt säubern wollte, kritzelte jemand noch hastig mit mit Kreide auf den Bürgersteig: Polit-Kunstwerk! Die Erinnerungs-Musik ist schon im Internet. (jk)