Missing Link: Taiwan – Netzfreiheit und Desinformationen im Schatten Chinas

Taiwan kämpft gegen Desinformationen und für den Datenschutz und liegt bei der Netzfreiheit und Demokratie vor Deutschland. Was wir von Taiwan lernen können.

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(Bild: muhammadtoqeer/Shutterstock.com)

Lesezeit: 19 Min.
Von
  • Monika Ermert
Inhaltsverzeichnis

Die Organisation Freedom House bescheinigte der Trutzburg Taiwan einen der vordersten Ränge in ihrem Bericht zur Netzfreiheit. Der Economist sieht Taiwan im Demokcracy-Ranking ganze vier Plätze vor Deutschland. Alle Welt blickt daher auf die kleine Insel im Südchinesischen Meer und möchte die Rezepte wissen, wie sich eine Autokratie innerhalb von 30 Jahren in eine der führenden Demokratien und einen der demokratischsten Fleckchen in Asien entwickeln kann.

Auch die Professorin Jeanette Hofmann, Forschungs- und Gründungsdirektorin des Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) und Leiterin der Forschungsgruppe Politik der Digitalisierung beim Wissenschaftszentrum Berlin, tourte jüngst für einige Monate durch Asien und nahm Formosa, wie die Insel ursprünglich hieß, wissenschaftlich unter die Lupe. Im Gespräch mit heise online nennt sie das digitale Selbstverständnis der Regierenden und die aktiv an Tools arbeitende Zivilgesellschaft mit die größten Pfunde. Neuralgische Punkte im Mediensystem gibt es aber ebenfalls und auch aus diesen lässt sich viel lernen.

heise online: Taiwan belegt in diversen Demokratie- und Internetfreiheit-Rankings aktuell immer vordere Plätze, teilweise liegt es sogar vor Deutschland. Macht sich das im Alltag bemerkbar?

Jeanette Hofmann

Jeanette Hofmann: Ich bin da in gewisser Weise etwas ernüchtert, vor allem beim Blick in Taiwans Medienlandschaft. Was aber zuallererst auffällt hier, ist, dass die Spannungen zwischen Taiwan und China sich über fast jede politische Diskussion legen. Nicht nur beim Thema Desinformation, mit dem ich mich besonders beschäftigt habe. Selbst eine Debatte um Schweinefleisch-Importe gerät hier zu einer Auseinandersetzung entlang der USA-China- und Taiwan-China-Demarkationslinie. In diesem Fall ging es um den Streit, ob mit wachstumsfördernden Medikamenten produziertes Fleisch aus den USA auf dem taiwanesischen Markt zugelassen werden sollte.

Die Analogie wäre unsere Chlorhühnchen Debatte …

Genau. In der Volksrepublik China ist solches Fleisch verboten. Daher wollte die taiwanesische Partei Guomindang (KMT), die China näher steht, dass es auch in Taiwan verboten wird. Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP), die stärker für die Unabhängigkeit eintritt und für das Bündnis mit den USA, hielt dagegen, dass nur noch Spuren von diesem Medikament nachweisbar sind, wenn es die Kunden erreicht. Daher hat sie die Zulassung erlaubt, zugleich aber ein Transparenzregister eingeführt, in dem Metzgereien verzeichnet sind, die Schweinefleisch verkaufen, das nicht aus den USA stammt. In der Debatte des Executive Yuan, des Parlaments, haben KMT-Abgeordnete die DDP-Abgeordneten mit Schweineinnereien beworfen.

Deftige Auseinandersetzungen ...

Es ist ein Beispiel dafür, wie jede Kontroverse in Taiwan den Spin Taiwan versus China bekommt.

Kommen wir auf das Thema Desinformation. Das dürfte gerade durch chinesische Propaganda und taiwanesische Gegenwehr geprägt sein, oder?

Desinformation ist das den Alltag beherrschende Thema hier. Die Menschen sind sich sehr bewusst, dass aktuell zwei Länder, nämlich Ukraine und Taiwan, ganz besonders betroffen sind von Desinformation. Wenn man genau hinsieht, merkt man allerdings, dass die Quelle von Desinformation in Taiwan nicht nur der große Bruder im Norden ist. Es gibt zwar viele, die es gerne allein China zuschreiben. Diejenigen, die das intensiver beobachten, sagen, dass es auch viel Desinformation gibt, die aus Taiwan selbst stammt. Es ist zu einer allgemeinen Waffe in der politischen Auseinandersetzung geworden. Wenn Wahlen anstehen, verdichtet sich das laut den Medienexperten. Vor allem die digitalen Medien, die komplett unreguliert sind, werden dann für Desinformation genutzt. Noch wichtiger erscheint mir aber der Blick auf die Medienlandschaft und deren Anteil am Problem. Taiwan hat eine extrem kommerzialisierte Medienlandschaft mit einer fast unüberschaubaren Vielzahl privater Anbieter.

Ist Medienpluralität nicht eine gute Sache?

Das Problem ist, dass diese Anbieter auf ökonomisch so schmalem Grat wandern, dass sie vielfach Leute engagieren, die noch Studenten sind oder das journalistische Handwerk überhaupt nicht gelernt haben. Gleichzeitig müssen die enorm viel produzieren, manchmal fünf Artikel an einem Tag. Das machen viele dann, indem sie einfach Facebook-Nachrichten kopieren. Im Ergebnis führt das in vielen Fällen dazu, dass falsche Nachrichten und gezielte Desinformation durch die klassischen Massenmedien verstärkt statt korrigiert werden. Eine besondere Wirkung entfaltet ein Messenger, Line. Viele Menschen hier nutzen diesen Messenger …

Die meistgenutzten Social-Media-Plattformen in Taiwan.

(Bild: GWI)

Ein aus Japan stammender Messenger ...

Ja. Zugleich funktioniert Line als News-Aggregator. Line hat Verträge mit ungefähr 600 Medienanbietern, vom einfachen Blog bis zu den großen Zeitungen. Für wenig Geld macht Line deren Nachrichten zugänglich und arbeitet praktisch als Verbreitungsmaschine von Information ganz unterschiedlicher Qualität.

Plattformen wie Line, auf denen man verschiedene Medien beziehen kann und nicht für jede einzelne Paywall bezahlen muss, sind ja eigentlich eine gute Sache ...

Klar hätten wir durchaus gerne Aggregatoren, über die wir Artikel verschiedener Anbieter beziehen können. Wir wollen bestimmte Autoren und Autorinnen lesen, zu bestimmten Themen lesen – und nicht eine große Zahl von Abos. Die Frage ist, ob ein Geschäftsmodell wie bei Line, bei dem ein De-Facto-Monopolist viele Nachrichten für sehr wenig Geld einkauft – ganz ohne auf Qualitätsstandards zu achten – schon der Weisheit letzter Schluss ist. Vielleicht wären andere Modelle, etwa gemeinsame Plattformen großer Nachrichtenproduzenten, besser, um Qualitätsstandards zu garantieren.

Mehr Desinformation wegen des Marktes als wegen der Propaganda aus der Volksrepublik – ist das Deine Bilanz?

Es ist durchaus so, dass sich chinafreundliche Kommentare oder Youtube-Videos monetarisieren lassen. Außerdem gibt es, wie in einigen europäischen Ländern, das Phänomen, dass kapitalstarke Unternehmen anderer Sektoren, Zeitungen kaufen und diese Investition mit einer politischen Agenda verbinden. Mir wurde mehrfach berichtet, dass sich taiwanesische Unternehmen, die in China produzieren, politische Sympathien in China dadurch kaufen, dass sie sich eine Zeitung oder einen Fernsehsender in Taiwan zulegen, der dann China-freundliche Nachrichten produziert. Chinesische Unternehmen selbst sind vom Besitz taiwanesischer Medien ausgeschlossen. Es gab aber auch den Fall des taiwanesischen Unternehmens Want Want, das eine Reihe von Zeitungen und Nachrichtensender eingekauft hatte, und letztere dann wieder veräußern musste, nachdem eine regelrechte Anti-Monopolisierungsbewegung hier auf die Barrikaden gegangen war und die engen Beziehungen zu China thematisiert hatte. Want Want wich dann auf YouTube Kanäle aus und macht dort weiter seine Politik.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Meine Gespräche hier in Taiwan haben für mich verdeutlicht, dass der Einfluss von Desinformation sehr stark abhängt von der breiteren Medienlandschaft in einem Land. Wenn man wie Deutschland eine relativ intakte Medienlandschaft hat, werden Falsch- und Desinformationen abgefedert durch die Vielzahl anderer Informationen, die man bekommen kann. Wie wir bei uns ein pluralistisches und qualitativ gutes Mediensystem erhalten, ist eine Frage, der wir uns stellen müssen.