Missing Link: Tesla in Grünheide – erleben wir eine disruptive Elektrifizierung?

Mit dem Produktionsstart in Grünheide dringt ein Digitalkonzern, der nebenher auch noch Autos baut, auch vom Volumen her in die Nähe der etablierten Hersteller.

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(Bild: Markus Mainka/Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Im Missing Link vom 17. Oktober ging es um die Technologieführerschaft Teslas in vielen relevanten Bereichen (Batterien, Software, Karosseriebau) und um die Schwierigkeiten der etablierten Hersteller, diesen Vorsprung aufzuholen – sind sie doch noch mindestens zehn weitere Jahre parallel mit der Verbrenner-Produktion beschäftigt – ein klassisches Legacy-Problem.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

In diesem Missing Link nun geht es um Teslas eigentliche Wettbewerbsvorteile: allem voran seine unbestrittene Softwarekompetenz und das Design des Produkts als softwaregetriebenes. Das lange als Elektro-Start-up belächelte Unternehmen funktioniert tatsächlich wie ein solches – die Adaption agiler Methoden bis hin zum shop floor erlauben es Tesla, binnen Monaten Veränderungen an Hard- und Software vorzunehmen und diese auch an ihre Kunden weiterzugeben. In der Branche einmalig: Das bereits ausgelieferte Produkt wird immer besser, und die Kunden müssen nicht den nächsten Modellwechsel abwarten.

Tesla hat seit seiner Gründung im Jahre 2003 einen Plan verfolgt, dessen langfristiges Ziel es ist, günstige E-Autos für den Massenmarkt in großen Stückzahlen zu bauen. Auf jeder Stufe wird das Geld verdient und werden die Erfahrungen gesammelt, die für die nächste Stufe nötig sind. Zunächst bewies Tesla mit dem Roadster, einem 170.000 Dollar teuren Sportwagen, der von Lotus gefertigt wurde, nicht mehr und nicht weniger als die grundsätzliche Einsatzfähigkeit und Performance des E-Antriebs, das war 2006. Als Nächstes ging Tesla 2012 mit dem Model S die Kleinserienproduktion einer Luxuslimousine an. Daraufhin stand mit dem Model 3 der Einbruch in die automobile Mittelklasse an, dessen Produktion 2017 startete. Als Nächstes stehen ein günstiges Einstiegsmodell und der Cybertruck auf dem Plan, der für den in den USA so wichtigen Pick-up-Markt abzielt.

Dieser Plan wurde bislang konsequent verfolgt und ist bislang auch aufgegangen: Tesla ist derzeit der wohl einzige Hersteller, der mit Elektroautos überhaupt Geld verdient, stellt die Unternehmensberatung McKinsey fest: "Abgesehen von einigen Premium-Modellen verlieren OEMs bei fast jedem verkauften Elektroauto Geld, was eindeutig nicht nachhaltig ist". Tesla hat mittlerweile in sieben aufeinanderfolgenden Quartalen schwarze Zahlen geschrieben und wird nach der Aufnahme in den Standard & Poor's 500 Aktienindex auch für institutionelle Anleger zum Must-have.

Die finanzielle Lage Teslas ist im Vergleich zu den Autobauern geradezu rosig – fast keine Schulden, hohe Barreserven und eine Marktkapitalisierung, die ihresgleichen sucht. Die traditionellen Hersteller plagen demgegenüber eine hohe Verschuldung sowie Liquiditätsprobleme – für notwendige Investitionen fehlen mitunter die Mittel. An der Börse sind sie vergleichsweise niedrig bewertet, was nicht nur die Anleger nervös macht, sondern auch die Gefahr von Übernahmen erhöht. "Ende März, Anfang April des Vorjahres, als unser Aktienkurs zwischen 23 und 30 Euro lag, waren wir in einer Risikozone unterwegs", räumte Daimler-Finanzvorstand Wilhelm kürzlich ein.

Hersteller Marktwert des Unternehmens [Mrd. US $] Stand 20.10.2021 Schulden [Mrd. US $] Stand Juni 2021
Tesla 876,2 11,1
Toyota 143,9 24.460
Volkswagen AG 115,4 218,4
Daimler AG 88,1 145,8
General Motors 83,7 111,9
Ford 62,9 147

Beim Umsatz sind die etablierten Hersteller immer noch Spitze, Volkswagen verzeichnete 2020 223 Milliarden Euro Umsatz, 12 Prozent weniger als im Vorjahr. Tesla erzielte im gleichen Zeitraum nur 27,3 Milliarden Euro Umsatz. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) macht sich trotzdem Sorgen, die Branche sei "insgesamt von einer nachhaltigen Erholung weit entfernt" (VDA Jahresbericht 2020).

Und die Umsätze werden fast ausschließlich mit Verbrennern erzielt, deren Tage sind jedoch gezählt. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo (sowie zukünftige und aussichtsreiche Präsidentschaftskandidatin) zeigte sich vergangenes Wochenende überzeugt: "In 10 Jahren wird es keine Produktion von Autos mit Benzin mehr geben." Vom Diesel ist bei ihr schon gar keine Rede mehr, und auch bei uns wurden im September 2021 erstmals mehr reine E-Fahrzeuge als dieselbetriebene zugelassen – ein historischer Moment.

Das macht sich auch in der Zulassungsstatistik bemerkbar: Um ein Haar hätte das Model 3 gar den Golf von der Spitze verdrängt, der mit 6886 gerade einmal 58 Mal häufiger verkauft wurde als das Tesla Model 3 (Kraftfahrtbundesamt). Bei reinen Elektroautos ist das Model 3 auch bei uns an der Spitze, und das, obwohl die heimische Produktion noch gar nicht gestartet ist: 2021 war das am häufigsten zugelassene reines Elektroauto das Tesla Model 3 mit knapp 24.000 Stück, dahinter folgen die Modelle Up und ID.3 von Volkswagen mit 21.900 beziehungsweise 21.500 Neuzulassungen. Das hat es noch nie gegeben: Ein US-amerikanisches Import-Auto, das in China gebaut wird, mischt die Zulassungsstatistik auf.

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Tesla als konkurrierenden Autohersteller ernst zu nehmen, genügt allerdings bei weitem nicht. "Mit dem kalifornischen Unternehmen hat sich ein Wettbewerber auf dem Markt etabliert, der den Automobilbau mit den neuen Geschäftsmodellen der Internetunternehmen betreibt." Das schreiben die Münchner Experten Andreas Boes und Alexander Ziegler in einer Studie zu Teslas Disruption der deutschen Autoindustrie. Die Industrie hat immer noch nicht verstanden, dass Tesla ein Digitalkonzern ist, bei dem das Auto nur Nebenprodukt einer Software-Plattform ist. 2019 schrieb ich bereits an dieser Stelle: "Tesla hat ein digitales Ökosystem rund um die Fahrzeuge entwickelt, das in der Branche seinesgleichen sucht." Daran hat sich bis heute nichts geändert, bei Software-Updates und Fernwartung kann auch fast ein Jahrzehnt nach der Vorstellung des Model S niemand Tesla das Wasser reichen.

Das wird deutlich beim Rennen um das "Betriebssystem fürs Auto". Alle Hersteller arbeiten fieberhaft daran, die in der Vergangenheit verfolgte Strategie der Auslagerung von Funktionalitäten in viele unterschiedliche dezentrale Steuergeräte zu revidieren, hatten sie doch auf das Auslagern ganzer Funktionsgruppen an Zulieferer gesetzt, um Kosten zu sparen.

Informatiker kennen das auf Alan Kay zurückgehende und von Steve Jobs gern zitierte Credo aus der Software-Welt, nach dem "Leute, die es mit Software wirklich ernst meinen, ihre eigene Hardware herstellen sollten." Bei Tesla ist das schon immer so: ein Zentralrechner, ein Betriebssystem, möglichst wenige Komponenten und kurze Kommunikationswege. Tesla hat von Anfang an auf eigene Hardware und Software gesetzt, deshalb ist Tesla auch von den gegenwärtigen Chip-Lieferengpässen weniger betroffen als andere Hersteller: Sie verwenden zum einen Eigenentwicklungen und benötigen nur ca. halb so viele Computerchips, wie sie etwa Volkswagen im ID 4 verbaut.

Auch die deutschen Hersteller haben mittlerweile erkannt, dass Teslas Weg der Softwareintegration der richtige ist. Jan Burgard, CEO der Beratungsfirma Berylls erläutert gegenüber automotiveIT, dies bringe "den Vorteil hoher Eigenwertschöpfung rund um Kundenerlebnis und Software-Stack im Fahrzeug". Doch das dauert: Bei Daimler soll 2024 "ein eigenes, datengestütztes und flexibel updatebares Mercedes-Benz Operating System" für die Fahrzeuge verfügbar sein, erklärte Sajjad Khan, der ehemalige Daimler-CTO.

Prof. Alois Knoll, Informatiker an der TU München warnt die Hersteller, sich bei dem in den nächsten Jahren bevorstehenden Kraftakt nicht zu übernehmen: Er empfiehlt, nur wirklich wettbewerbsrelevante Software inhouse zu entwickeln, ansonsten drohe eine Kostenexplosion (Webcast von automotive IT, 7. September 2021) – es bleibt kompliziert.

Tesla tickt wie ein Digitalkonzern, das bedeutet auch, dass er klassische Ingenieur-Aufgaben angeht, wie ein Software-Startup das tun würde. Und dazu gehört der Einsatz agiler Methoden: Hier werden in enger Abstimmung mit dem Kunden in kurzen Zyklen von weitgehend selbständig agierenden Teams, in steter Folge funktionsfähige Verbesserungen implementiert, Pläne periodisch revidiert, inkrementelle Produktverbesserungen in schneller Folge produziert.

Das Standardmodell für Softwareentwicklung wendet Tesla auch auf die Produktion und hat dazu eigens das "Agile Car Development Framework": "Extreme manufacturing – agile Entwicklung für Fabriken" lautet das Stichwort, wie das Nachrichtenportal cleantechnica bereits 2018 berichtete. Das erlaubt es Tesla, schnell selbst tiefgreifende Designänderungen und Optimierungen am Produktionsprozess vorzunehmen. Nicht nur bei der Software gibt es alle paar Monate Updates und Bugfixes, auch in die Produktion der laufenden Modelle wird ständig eingegriffen. Der Autoexperte Sandy Munro: "Wir haben Tesla Empfehlungen gegeben und sie haben sie sehr schnell umgesetzt. Egal, ob es um den Druckguss geht oder das Octovalve [ein wichtiges Element des Kühlkreislaufs]". Munros Urteil: "Tesla wird nicht aufhören [zu innovieren], sie sind keine Autofirma, sie sind wie Edisons Labor oder so etwas" (Compilation: Best of Sandy Munro on Tesla).

Auch beim Bau der Fabrik in Brandenburg setzt Tesla Maßstäbe, was die Geschwindigkeit angeht. Tesla will in Grünheide jährlich rund 500.000 Exemplare der kompakten Fahrzeugreihen Model 3 und Model Y produzieren. Doch damit nicht genug: Anfang Juni reichte das Unternehmen mit Sitz in Kalifornien noch weitere Antragsunterlagen ein. Die Änderungen im laufenden Verfahren waren unter anderem nötig geworden, weil Tesla nun auch noch die größte Batteriefabrik der Welt entwirft.

Die Bielefelder Firma Goldbeck ist für einen Großteil der Fabrik in Grünheide verantwortlich, die Chefs des Systembau-Spezialisten geben gegenüber dem Handelsblatt an, es sei mit 100 bis 200 Millionen Euro nicht der größte, aber der schnellste Großauftrag der Firmengeschichte: "Der Auftrag kam viel schneller als sonst. Solche Prozesse von der Idee bis zur Fertigstellung dauern hierzulande mit allen Genehmigungen sechs bis sieben Jahre. Aber dann hat man eine im Grunde veraltete Fabrik."

Tesla treibt die etablierten Hersteller also tüchtig vor sich her, sein technologischer Vorsprung dürfte in allen wesentlichen Bereichen durchaus fünf Jahre betragen. Aus dem geplanten langsamen Hochfahren der Elektromobilität ist eine schnelle Neuaufstellung des Automarktes geworden, der die etablierten Hersteller auf dem falschen Fuß erwischt.

Was wir gerade erleben, ist möglicherweise mit "disruptive Elektrifizierung" treffend beschrieben: Die freigesetzte Dynamik hat das Potenzial, die deutschen Autoindustrie nicht nur zu stören und wachzurütteln, sondern den Markt so schnell und so nachhaltig zu verändern, bis außer Volkswagen (too big to fail) niemand mehr da ist, der Tesla – und den auf den Markt drängenden chinesischen Herstellern – Paroli bieten kann.

Wir bekommen so dank Tesla zwar eine schnellere Elektrifizierung der PKW-Flotte, aber einer echten Antriebswende, also der kompletten Dekarbonisierung des Verkehrssektors, kommen wir damit nicht näher. Denn beim Güter- und öffentlichen Verkehr sieht es mau aus: Investitionsstau bei der Bahn, Güter auf der Straße, und dem ÖPNV laufen die Fahrgäste davon.

Und wenn in Zukunft Elektroauto Fahren auch noch – tatsächlich oder vermeintlich, sei dahingestellt – umweltfreundlicher ist als Bus und Bahn fahren, dann rückt ein Ausstieg aus dem autozentrierten Nachkriegs-Lebensmodell erst recht in weite Ferne.

(tiw)