Missing Link: Wackre neue Welt, herrliche Geschöpfe – Huxleys "Schöne neue Welt"
Seite 2: Henry Ford
Inhaltsverzeichnis
Huxley hatte zudem auf einer Schiffsreise die Autobiographie "Mein Leben und Werk" von Henry Ford gelesen. Im Herbst 1931 überarbeitete er seinen Roman, um so viele Fordismen wie möglich im Buch zu haben. Zentral ist dabei das Interview, das Henry Ford im Jahr 1916 der Chicago Tribune gegeben hatte: "I don't know whether Napoleon did or did not try to get across there and I don't care. It means nothing to me. History is more or less bunk. It's tradition. We don't want tradition. We want to live in the present and the only history that is worth a tinker's dam is the history we make today." (Ich weiß nicht, ob Napoleon versucht hat, hinüberzukommen oder nicht, und es ist mir auch egal. Es bedeutet nichts für mich. Geschichte ist mehr oder weniger Quatsch. Das ist Tradition. Wir wollen keine Tradition. Wir wollen in der Gegenwart leben, und die einzige Geschichte, die einen Pfifferling wert ist, ist die Geschichte, die wir heute machen.)
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Die permissive, genetisch optimierte geklonte Menschheit in der neuen Welt kennt im Jahre 632 nach Ford keine Geschichte. Sie kennt keine Angst und sie lebt dank der Droge Soma in schönstem Gleichmut. Abwechslung gibt es im Fühlorama, einer Weiterentwicklung des Kinos, beim Sex und beim Sport. Man spielt Golf oder Riemannflächentennis.
Stabile neue Welt
Aldous Huxley, 1925.
(Bild:Â Henri Manuel, Public domain, via Wikimedia Commons)
In seinem Roman variierte Aldous Huxley die Szene des Großinquisitors aus Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow". Bernard Marx, sein Freund Helmholtz Watson und der Wilde werden in die Bibliothek des Weltcontrollers Mustapha Mond geführt, der ihnen einen Vortrag über die friedliche, stabile neue Welt hält: "Die Menschen sind glücklich, sie haben alles, was sie wollen, und nie wollen sie, was sie nicht haben können. Es geht ihnen gut, sie leben in Sicherheit, sie sind niemals krank, sie fürchten den Tod nicht, sie wissen nichts von Leidenschaft, nichts vom Altern, sie werden nicht von Müttern und Vätern geplagt, sie haben keine Ehefrauen, keine Kinder, keine Lieben, denen ihre Gefühle gelten, sie sind so konditioniert, dass sie praktisch nichts anderes können, als sich zu verhalten, wie sie es sollen. Und wenn irgendetwas schiefgeht, gibt es Soma."
Es gibt Huxley-Interpretationen, die auf eine weitere Vorlage verweisen, nämlich Jewgeni Samjatins Dystopie "Wir" aus dem Jahre 1920. Das wurde sowohl von Huxley wie von Samjatin bestritten. Viel auffälliger sind die Parallelen zu einem anderen, heute vergessenen deutschen Roman "Das Automatenzeitalter" von Ri Tokko alias Ludwig Dexheimer. Auch in diesem 1930 veröffentlichten Roman leben die Menschen friedlich in einer Riesenstadt, auch hier werden neue Menschen in vitro herangezüchtet und leben ein Dasein ohne Armut, Krankheit und schlechte Laune.
Das liegt daran, dass Dexheimer sich genau wie Huxley von Haldanes Daedalus inspirieren ließ. In Bezug auf die menschliche Geschichte schlägt Dexheimer im "Automatenzeitalter" jedoch einen ganz anderen Weg ein: Es gibt in ferner Zukunft ein Zentralmuseum mit den Schätzen aller Kulturen, mit allen Büchern, Filmen und Fotos, die jemals veröffentlicht wurden. Die Menschheit sollte sich an die schaurige Vorgeschichte erinnern und den Frieden hochhalten.
"Wie man sich bettet, so liegt man"
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Der britisch-amerikanische Autor und Essayist Christopher Hitchens hat sich mehrfach mit Aldous Huxley beschäftigt. Von ihm stammt etwa das Vorwort zur aktuellen Ausgabe der Brave New World. In seinem Text "Goodbye to all that" beschäftigte sich Hitchens 1998 mit der Frage, warum das Fach Geschichte für Amerikaner so gut wie keine Rolle spielt, ganz in der Tradition eines Henry Fords. Dabei verglich Hitchens die Dystopien von Orwell (über den er ein Buch geschrieben hatte) und Huxley: "Orwell's was a house of horrors. He seemed to strain credulity because he posited a regime that would go to any lengths to own and possess history, to rewrite and construct it, and to inculcate it by means of coercion. Whereas Huxley ... rightly foresaw that any such regime could break because it could not bend. In 1988, four years after 1984, the Soviet Union scrapped its official history curriculum and announced that a newly authorized version was somewhere in the works. This was the precise moment when the regime conceded its own extinction. For true blissed-out and vacant servitude, though, you need an otherwise sophisticated society where no serious history is taught." (Orwells Dystopie war ein Haus des Schreckens. Er schien die Glaubwürdigkeit zu strapazieren, weil er ein Regime postulierte, das alles tun würde, um die Geschichte zu besitzen, sie umzuschreiben und zu konstruieren und sie mit Hilfe von Zwang einzupflanzen. Wohingegen Huxley ... zu Recht voraussah, dass ein solches Regime zerbrechen würde, weil es sich nicht anpassen kann. 1988, vier Jahre nach 1984, strich die Sowjetunion ihren offiziellen Geschichtslehrplan und kündigte an, dass eine neue autorisierte Version in Arbeit sei. Das war genau der Moment, in dem das Regime seine eigene Abschaffung einräumte. Für eine wirklich glückselige und freie Knechtschaft braucht man allerdings eine ansonsten hoch entwickelte Gesellschaft, in der keine ernsthafte Geschichte gelehrt wird.)
Im Jahre 1946 wurde Aldous Huxley gefragt, ob er nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges eine Neufassung seines Romans angehen möchte. Das lehnte Huxley ab, schrieb aber ein neues Vorwort, das ein Zitat des Philosophen Nicolai Berdjajew ersetzte, der 1919 über die russische Utopie spekuliert hatte. Huxley schrieb: "Faktisch bleiben uns ... nur zwei Möglichkeiten: entweder eine Reihe nationalistischer, militarisierter totalitärer Regime, deren Fundament der Terror der Atombombe und Folge wäre (oder, bei begrenzten Konflikten, die Perpetuierung des Militarismus), oder ein totalitäres, aus dem rasanten technischen Fortschritt im Allgemeinen und der Atomrevolution im Besonderen erwachsenes supranationales Gebilde, das um der erforderlichen Effizienz und Stabilität willen die Gestalt der Wohlfahrts-Tyrannei von Utopia annähme. Wie man sich bettet, so liegt man."
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